# 76 Songlines

Abschied
Eines Nachts, als der Sommer am tiefsten war, zog ich die Tür hinter mir zu und ging los, so geradeaus wie möglich nach Osten. Berlin war ganz still an diesem frühen Morgen. Alles, was ich hörte, war das Pochen der eigenen Schritte auf den Dielen, dann auf Granit. Eine Süße lag in der Luft, das waren die Linden, und Berlin lag wach, aber es hörte mich nicht. Es lag wach wie immer und wartete wie immer und hing wirren, gewaltigen Träumen nach, die aufblitzten wie das Wetterleuchten dort über dem Häusermassiv. Es hatte geregnet die Nacht, ein Bus fuhr vorüber, seine Rücklichter zogen rote Spuren über den nassen Asphalt. Verkehr kam auf, in den Alleen schrieen die Vögel, zitternd sprang die Stadt an, bald würden Angestellte in breiter Formation in ihre Büros fahren. Damit hatte ich nichts mehr zu tun.

aus: „Berlin – Moskau
Eine Reise zu Fuß“
von:   Wolfgang Büscher
rororo 2003

Das Buch kam heute mit der Post, ich habe es ausgepackt und aufgeschlagen und wusste nach den ersten Zeilen, daß ich auch auf diesem Weg, den Wolfgang Büscher vor zwanzig Jahren abgeschritten hat, hinter ihm hertrotten würde wie ein streunender herrenloser Hund, der einer Fährte folgt. Und ich folge dabei nicht erstrangig seinen Stiefeln auf fremden Straßen, nicht den Abenteuern, die er erlebt, wahrscheinlich nicht mal seiner Person. Ich kann das nicht näher beschreiben, aber es ist die Poesie seiner Sprache, der ich folge. Mit dem ersten Satz beginnt der Weg, der sich Wort für Wort weiter fortsetzt wie Lichtzeichen von einem fremden Stern oder wie eine Melodie, die sich von selbst weiterspielt. Ich sehe es nicht und höre auch keine Musik und trotzdem ist es so. Bruce Chatwin hat über die Traumpfade geschrieben, niemand kann sie erklären und doch sind sie da. Ich folge den Traumpfaden der Sprache, des geschriebenen Wortes schon lange. Ich kann sie  weder sehen noch riechen oder hören, aber ich spüre sie. Ich habe mit W.G. Sebald England mit Linien überzogen, bin J.L.Borges ins Labyrinth gefolgt, mit Bruce Chatwin nach Patagonien, wo in dieser Höhle das Fell von einem uralten Wesen verborgen war und bin mit Werner Herzog nach Paris gegangen, eine Linie, die den Tod überwinden konnte.

Von Wolfgang Büscher habe ich „Ein Frühling in Jerusalem“ gelesen und irgendwann mitten in seinem Text habe ich sie gespürt: die Songline der drei Frauen, oder waren es mehr und seitdem möchte ich genau dorthin, wo sie waren und noch sind …  diese Frauen.

Seit diesem Buch bin ich seiner Sprache gefolgt und mit ihm durch Deutschland gegangen und um das Holzhaus im Wald geschlichen und jetzt werde ich ihm folgen nach Moskau, lange bevor der schreckliche Krieg so viele Menschen in Tod und Verderben gestürzt hat. Und dann werde ich nach Amerika reisen, durch das Hartland und durch Asien und … nicht zu vergessen, das neue Buch über seinen Weg durch die Wüste.

Auf meinem Tisch liegen mindestens zwanzig ungelesene wunderbare Bücher, die Lettre mit einem hochinteressanten Text über Patti Smith und W.G.Sebald, es wird langsam eng, kaum haben noch Teekanne und Tasse Platz, aber alles muß warten, denn ich bin unterwegs nach Moskau mit Wolfgang Büscher, dem ich hiermit nochmal herzlich danke, daß ich aus dem Buch zitieren durfte!

Ihr könnt es gerne Leidenschaft für Sprache nennen oder auch sagen, daß ich spinne, beides würde ich nicht ausschließen, aber ich sage, ein paar wenigen gelingt es, mit ihrer Sprache Songlines zu schaffen, auf denen man reisen kann, wenn man den Mut hat, sich treiben zu lassen. Da ich eine Träumerin bin …

 

Und hier schreibt die Kraulquappe

2 Gedanken zu „# 76 Songlines

  1. Was für ein herrlicher Lektürensalat, besonders danke ich für den Hinweis auf Büschers Saharabuch, das kenne ich noch nicht und werde es meiner Freundin, einer früheren Saharafahrer- und Geherin schenken, nachdem ich es gelesen habe! Liebe Grüße von Sonja

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