# 72 Abgesang

Jetzt haben sie es also abgerissen, das Moorbad. Vor 100 Jahren konnte man sich dort warme Wickel machen lassen und darin baden in diesem schwarzen Moorschlamm, den sie hinter dem Haus ausgegraben haben. Ich kenne dieses Gebäude schon mein ganzes Leben lang und es waren mir Haus und Ort lebenslang immer ein wenig unheimlich. Es stand, umringt von alten, finsteren Tannen, direkt an der Bundesstraße, und in den Jahrzehnten wuchs es immer mehr zu mit wilderndem Gebüsch. Niemand wusste so recht, was sich in diesem Haus abspielte, nie sah man irgendjemand auf dem Balkon oder um das Gebäude herum gehen oder sitzen. Es standen immer ein paar Autos auf düsterem Parkplatz, ja, düster war es dort. Irgendwann hieß es dann „Tannenhof“ und war angeblich eine Frühstückspension für Vertreter und allerlei Gestalten, die vorübergehend eine Bleibe brauchten. Manch einer vermutete rote Laternen im Fenster.

Man kann die Straße nach Osten nicht benutzen, ohne an diesem Ort vorbeizukommen. Und jedes Mal, wenn ich dran vorbeifuhr, unterstellte ich ihm ein Geheimnis, oder sogar mehrere und manchmal dachte ich an den „Tanz der Vampire“, an schön gekleidete Menschen, die im Walzertakt über das glänzende Parkett eines Saales gleiten, beleuchtet von tausend Kerzen in tausend Spiegeln, in denen sonst nichts zu sehen ist …

In den letzten zehn Jahren verfiel das Gebäude zusehends, hin und wieder war abends noch ein einziges Licht in einem einzigen Fenster zu sehen. Das endgültige Sterben begann, als der Parkplatz zu einer Art Gebrauchtwagendeponie umfunktioniert wurde. Abgestellte Autos bedeuten den unumgänglichen Tod eines Ortes.
Als der Besitzer vor zwei Jahren gestorben ist, hat die Gemeinde das Anwesen gekauft und dann wurde der Abriß geplant, um den Ort einer Neubebauung zuzuführen, zuvor muß aber der Moorboden untersucht werden.

Jetzt ist alles weg, nur ein großer Bagger steht noch am Rand. Sehr sehr leer ist es dort. Abgeschnittene Baumstümpfe stehen im Halbkreis um diesen so furchtbar leeren Platz. Ein paar vom großen Aufräumen vergessene Tannenäste ragen wie spitze Knochen an einem Gerippe aus dem Schneematsch, der an etlichen Stellen vom Blut der alten Hagebutten durchtränkt ist. Wäre ich doch eine Dichterin, dann würde ich diesem Ort ein Gedicht schenken. Einen poetischen Abgesang für einen sehr merkwürdigen Ort würde ich schreiben, an dem jetzt eine Stille herrscht, die so laut ist, daß sie den Lärm der Straße übertönt. Ich wollte den Platz betreten, an dem Haus und Bäume standen, aber es ging nicht, die Luft darüber ist so verdichtet wie unsichtbare Wände, an diesem verlorenen Ort mit dem verlorenen Haus und den verlorenen Menschen und ihren verlorenen Geschichten.

Ja, vielleicht sind es die Geschichten, die noch über dem leeren Platz hängen und die Zeit wiegt sich noch in den Tannenwipfeln und die Hoflaterne schwankt im Wind und die Schicksale stöhnen in den Menschen und eine Türe geht auf und man hört leises Lachen … bald, bald wird auch das vergangen sein.

Und hier schreibt die Kraulquappe

4 Gedanken zu „# 72 Abgesang

  1. Schade, dass dieser Platz sterben musste, wären sie doch so wichtig für Geschichten, die aus einem herauswachsen beim Anblick solch verwunschener Gegenden. Du hast ihm nochmal eine Bedeutung zugeschrieben mit viel Schmerz und Wehmut. Es braucht keine Lyrik, es reichen deine Sätze und eine Stimmung und ein Zauber erwachen.
    Liebe Grüße
    Gabriele

  2. So morbide Orte und Häuser. Wir wohnen in so einem Haus, dessen Wände Geschichte ausströmen, und wir hoffen, dass das Haus uns überlebt, zu unserer dauerhaften Freude. Es wird immer nur so viel getan, dass es nicht hinein regnet. Alte Einfachverglasung in uralten Hartholzrahmen, exorbitante Energierechnung, aber moderate Kaltmiete. Unterm Strich günstiger als so ein hochsaniertes Ding, was sich dereinst ändern mag. Unbezahlbar dagegen, dank reichlich Leerstand kaum Nachbarn zu haben. So Kehrwochefetischisten, Unterarmfensterbrettplattliegerinnen, Tratschkerle und – Weiber, lautstarkes Gesockse, alles nicht da. Wenn es lauter wird, sind das unsere Katzen, die sich mal wieder jagen. Wir lieben die alte Burg, sehr.

  3. … eine zeitlang werden diese geschichten noch über dem nunmehr leeren platz stehen, schweben, dann nur noch in den köpfen derer, die sie seinerzeit vermutet oder gehört haben, und dann werden sie dem neuen platz machen. vielleicht (hoffentlich) auch neuen geschichten, aber bis dahin dauert es noch …

    liebe grüße, andrea

  4. Es gibt auf Instagram ja ein ganzes Genre, das sich ausschliesslich mit solchen Lost Places oder Abandoned Places auseinandersetzt. Aber nie hat sich mir deren furchterregender Zauber besser erschlossen als beim Lesen dieses Textes.

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