Am besten schreibt man über das, was man kennt. Ich weiß nicht mehr, von welchem großen Schriftsteller diese Worte stammen, im Zweifelsfall von Mark Twain. Die nachmittägliche Doppelimpfung, rechts Grippe, links Corona, macht sich schon bemerkbar, beide Arme tun weh, ich fürchte, sie werden anschwellen, heiß und rot werden weitläufig um die Einstichstellen herum. Die Frage, wie sinnvoll die ganze Impferei ist, hat sich dadurch erübrigt, daß ich sie jetzt hinter mich gebracht habe. Die Praxis der Hausärztin ist voll mit Corona oder schlimmen Erkältungen, ringsherum wird gehustet, geniest und lautstark diverse Tröpfchen in die Luft gejagt, selbstverständlich frei heraus, ohne Armbeuge oder zumindest Hand vor den Nasenrachenbereich. Das brauchts jetzt nicht mehr, denn schließlich ist nichts verboten, die Pandemie ist vorbei. Ich habe beschlossen, wieder einen Mundschutz zu tragen, dort, wo viele Menschen auf einem Haufen sind und ich mich nicht sicher fühle. Ja, man wird angestarrt, als wäre man ein Alien und käme vom Mars, das muß man aushalten.
Der Rosenstock vor dem Haus trägt unzählige Knospen, die sich ständig zu Blüten öffnen, um ihre orangerote Farbe in den dunkelgrauen Novembertag schütten zu können. Das ganze Jahr über ist es diesem Strauch nie so gut gegangen wie jetzt, so scheint es.
Der Föhn ist zusammengebrochen, es ist kälter geworden, der Regen hat aufgehört und heute sind ein paar Schneeflocken herumgewirbelt. Gottlob sind die zwei letzten großen Kakteen und die Agave auch ins Haus in ihr Winterquartier geschleppt. Die Igel sind auch wieder verschwunden in die ausgepolsterten Wohnungen unter den Gestrüpphaufen. Leider weiß niemand, wo genau sie ihre Wohnungen bauen, deshalb gestaltet sich das Abtragen der längst zum Verbrennen fälligen dürren Äste ziemlich schwierig. Das Laub bleibt da liegen, wo es hingefallen ist und dient als verrotteter Dünger, auch der Rest der Äpfel liegt im Gras und wird von irgendwelchen Wesen bei Nacht und Nebel verspeist werden. Schade, daß es heuer keine Zwetschgen gab, denn sonst würden noch etliche Exemplare an den Bäumen hängen, verschrumpelt und mit orangefarbigem Fruchtfleisch, so süß, wie nur Zwetschgen sein können, die schon einen kleinen Frost erwischt haben. Diese Süße ist mit nichts auf der Welt vergleichbar und wie ein Wunder. Da fällt mir der französische Titel des Films ein, den ich gestern schon wieder gesehen habe, mitten in der Nacht: „le goût de merveilles“. Ich kann ihm nicht widerstehen, hab ihn sicher schon zwanzigmal gesehen unter dem deutschen Titel „Birnenkuchen mit Lavendel“.
Ich liebe diesen kleinen, romantischen Film über das Glück, das plötzlich vom Himmel vors Auto fällt und mit dem man nicht mehr gerechnet hat und das so süß schmeckt wie die Zwetschgen im November. Eine Geschichte, die das Herz weit macht. Hervé Pierre, der den alten Buchhändler spielt, erinnert mich an das Glück einer Begegnung vor langer Zeit mit einem alten Herrn, der in München am Kurfürstenplatz ein Antiquariat hatte, einen Laden, halb im Keller, beheizt von einem Kohlenofen, auf dem ein Topf mit Punsch stand, aus dem er mir immer ein Glas anbot. Ein stiller Ort, wie aus einer anderen Zeit, im Hintergrund leise Musik, es roch nach Kohlen, Wein und Bücherstaub und ein wenig nach vergänglichem Glück, ich saß in einem abgewetzten Fauteuil und ging mit alten Gedichtbänden wieder heim, liebevoll verabschiedet.
Der Film spielt in Südfrankreich, sobald er anläuft, bin ich wie gebannt und ich sauge alles auf wie beim ersten Mal hinschauen und entdecke immer wieder Neues, ich kann nicht genau sagen, was es eigentlich ist, warum ich mir diesen Film noch hundert Mal anschaue und jedes Mal wieder verliebe ich mich in diese perfekt geschwungene Nackenlinie von Virginie Efira und in dieses Lächeln, das aus ihrem Gesicht leuchtet und die Anmut ihrer Bewegungen, sie tänzelt wie eine Fee und hat gleichzeitig den festen Schritt einer Bäuerin.
Ach, es stimmt einfach alles. In „Herzschlagkino“, dem wunderbaren Buch einer großen Liebe, Begeisterung, Besessenheit, die ich teile, schreibt Andreas Pflüger: „Manche Filme verdrehen dir von der Aufblende an den Kopf. Du verknallst dich, mit Herzklopfen bis zum Hals. Die allerbesten geben dir dieses Gefühl jedes Mal, wenn du sie siehst…“
Warum ich so wahnsinnig fixiert bin auf die Nackenlinie und das Lächeln und den aufrechten Gang der Hauptdarstellerin, war mir nicht bewußt, bis ich im gleichen Buch über die Filme fürs Leben die Zeilen des Rilkegedichts las. Was es doch für Zufälle gibt. Ich werde an sie erinnert, oder erinnert sie sich an mich, sucht sie auch meine Nähe, sucht sie mein Herz … ? Aus diesem Gesicht blickt sie mich an, meine schöne Freundin mit den Jadeaugen. Sie hat sich schon vor vielen Jahren auf die Große Reise in die Ewigkeit gemacht. Wir konnten die Freundschaft nicht halten, sind traurig gescheitert und haben uns vollkommen verloren. Aber die Liebe ist geblieben. Sonderbarerweise über all die Jahre und alle Distanzen hinweg. Das habe ich ihr damals geschrieben und sie sagte: Darauf habe ich noch gewartet. Dann ist sie gestorben. Sie fehlt mir so sehr und manchmal werde ich an sie erinnert, wenn ich gar nicht damit rechne. Die Liebe ist eine äußerst seltsame Kraft, sie führt ein Eigenleben und der Tod scheint ihr wohl nichts anhaben zu können. Verstehen tu ich das nicht wirklich, aber ich spüre, daß es existiert.
„Ich habe Tote, und ich ließ sie hin
und war erstaunt, sie so getrost zu sehn,
so rasch zuhaus im Totsein, so gerecht,
so anders als ihr Ruf. Nur du, du kehrst
zurück; du streifst mich, du gehst um, du willst
an etwas stoßen, daß es klingt von dir
und dich verrät.“
Rainer Maria Rilke
Da schreibt die Frau Kraulquappe, auch sie hat zwei wehe Arme, wie das Leben so spielt…
Wieder ein wunderbarer Text, liebe Frau Graugans. So voller Liebe und Achtung für alle Wesen. Wie du über
„Birnenkuchen und Lavendel“ schreibst, ein Film den ich auch liebe, könnt ich dich abbusseln und drücken. Es gibt Filme, die verlassen einen nie wieder.
Wie schön die Kakteen im nächsten Jahr blühen Werden
Verknallt, das ist noch ein Wort, ohne den kleinsten Maschinenanteil.
Leider kenne ich den Film gar nicht, ich werde mich auf die Suche machen. Oder hast du einen Tipp, wo ich ihn finden kann?
Herzlichst, Ulli