Meine Mutter war eine sehr liebevolle Mutter, hätte ich sagen können, früher. Mein Bruder und ich wurden mit allem versorgt, was notwendig war. Ihrer Meinung nach sollte ich nicht so viel lesen und lieber mehr draußen spielen. Bewegung an frischer Luft ist schließlich etwas Gutes. Meine Mutter arbeitete im Handel. Also gab es auch mal Sachen, die andere Kinder nur vom Hörensagen kannten, Kokosnüsse zum Beispiel und frische Ananas. Meine Mutter rauchte früher zu „Gelegenheiten“, hörte offiziell aber damit auf, als ich die ersten Zigaretten kaufte. Da war ich 16.
Meine Mutter war eine sehr liebevolle Mutter, hätte ich früher sagen können. Sie registrierte jede noch so kleine meiner Verfehlungen. Doch sie bestrafte mich nie (gut, eine einzige Ausnahme weiß ich noch). Sie war so liebevoll. Wenn mein Vater von der Schicht heimkam, wurde ihm brühwarm erzählt, was ich wieder angestellt hatte – und in meiner Erinnerung war tatsächlich nur ich der Delinquent, niemals mein jüngerer Bruder. Natürlich machte meine Mutter auch immer gleich die Strafvorschläge, die mein Vater dann vollstrecken mußte. Tat er es nicht, hing der Haussegen freilich für eine ziemlich lange Zeit schief.
Meine Mutter war eine sehr liebevolle Mutter, hätte ich sagen können, früher. Sie schlug nie, sie kniff nicht, sie zog nicht am Ohr. All das mußte Vater in ihrem unerbittlichen Auftrag erledigen. Der war 75, als er mir erzählte, wie oft der Haussegen wegen seines Versagens in meiner Erziehung schiefhing. Mein Vater ist mittlerweile noch älter und dement. Und siehe, wenn ich mit meiner Mutter zusammen meinen Vater in seiner Einrichtung besuche: Meine Mutter ist eine sehr liebevolle Frau.
Meine Mutter ist in ihrem hohen Alter tatsächlich wieder lernfähig geworden. Sie korrigiert nicht mehr die Fehler, die Vater macht. Bezeichnet nicht mehr als Blödsinn, was er sagt. Nein, sie kümmert sich tatsächlich um ihn, wenn sie ihn besucht. Es hat ja auch keinen Zweck mehr und bleibt ohne Folgen, wenn sie von ihrem Mann etwas verlangt. Meine Mutter vermißt den Menschen, mit dem sie ihr ganzes Leben lang verheiratet war, den sie ein ganzes Leben lang herumschicken konnte.
Meine Mutter war eine sehr liebevolle Mutter, hätte ich sagen können, früher; und ich bin mir nicht sicher, ob ich es heute sagen mag. Ich wüßte gern, wie und womit sie meinen Vater so lange an ihrer Seite gehalten hat …
„Meine Mutter war eine sehr liebevolle Mutter, sage ich heute, im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten.“
Text: Der Emil
Ich denke unserer aller Mütter haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Beste getan. Dass es nicht immer das Richtige war, mag sein. Aber tun wir immer alles richtig? Dürfen wir so hart urteilen/verurteilen?
Heftig! Aber gut, dass es hier geschrieben wird! Mir ist Einiges davon bekannt, es wurde bei uns auch so gehandhabt, sicher auch in vielen anderen Familien! Für beide Elternteile irgendwie schämenswert…keiner fühlte sich wohl in seiner Rolle. Was war das Ziel?
Lieber Emil, wenn ich das bei dir und auch in dem Kommentar von Wildgans lese, muss ich vielleicht gar nicht traurig sein, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin. Vielleicht hätte meine Mutter ihren Ärger auf mich und dann sicher noch vorhandene Geschwister auch an meinen Vater zur Ausführung delegiert. Doch vielleicht hatte sie solche Ambitionen gar nicht, denn ich bin wirklich – bis auf eine oder zwei Ausnahmen – absolut prügelfrei aufgewachsen.
Die Erinnerungen an die Mütter fallen ja sehr, sehr unterschiedlich aus.
Lieben Gruß zu dir
Wie sich das so häufig hier wiederholt; die Defizite der Mütter und dann doch das Verzeihen durch die Kinder. Aber traurig macht das Lesen schon.
„Im Rahmen ihrer Möglichkeiten“ – darin steckt am Ende die Versöhnung, das Verständnis des erwachsen gewordenen Jungen, der unter ihr zu leiden hatte.
Es hat lange dazu gebraucht, unter anderem 10 Jahre totalen Kontaktabbruch …
Gefällt mir sehr gut!