Mutmaßungen über meine Mutter – Der Schatten der Angst
„Der Vater kommt heim!“
Alles Gelächter erstirbt. Die Kinder ducken sich, Blicke senken sich, der Atem wird flacher. Bloß nicht auffallen. Keine Wut reizen. Einfach unsichtbar werden.
Damals waren die Fotos noch eine Welt aus Schwarzweiß.
„Unsere kleine Schwester ist viel stärker als dein Bruder!“
„Quatsch, ist sie niemals!“
„Doch, ist sie! Die haut deinen Bruder einfach um!“
„So ein Blödsinn! Sie ist ein Mädchen und ihr seid Schwätzer.“
„Wetten? He, kleine Schwester, komm her und hau seinem Bruder eine rein!“
Sie denkt nicht, ballt die Faust, schlägt zu. Der Junge beginnt zu weinen.
Ein himmelblaues Auto hält. Der Mann, der plötzlich neben dem Auto steht, ist fremd. Er spricht sie an. Sie beginnt zu rennen, über die Feldsteine, unter die Bäume, die Hohlgasse hinunter ins Dorf, wo die Schule wartet.
Die Fotos zeigen nun Farbe und einen Stich ins Gelbliche. Als sie zum ersten Mal gebiert, hat sie noch ein paar Monate bis zur Mittleren Reife. Die Hebamme rät zur Flasche, also macht sie es. Das erste Kind schreit, sucht, tobt. Sie stellt es ab im Badezimmer und schließt die Tür. Schreien lassen, Ohren zu. Später, besonders beim dritten Sohn, wird sie manches anders machen. Aber dass die Kinder zu laut schreien, das kann sie sich nach wie vor nicht erlauben. Sagt sie. Das dürfen die sich nicht erlauben. Und so schreien sie irgendwann nicht mehr.
Das mit dem Gelbstich stimmt nicht. Die Fotos von der Hochzeit, von der Taufe sind immer noch schwarzweiß und sie sieht auf ihnen überhaupt nicht aus wie das junge Mädchen, das sie war.
SS-20-Mittelstreckenraketen. Die Überlegung auszuwandern. Nach Kanada. Sie bleiben. Wenn die Panzer durch das Dorf fahren, verzieht sie das Gesicht. Durchbrechen die Düsenjäger die Schallmauer, verzieht sie das Gesicht. Am liebsten würde sie Steine in den Himmel werfen, auch wenn das lächerlich ist. Dann Pershing. Sie geht auf Friedensdemonstrationen, allein mit drei kleinen Kindern. Drüben, gegenüber, steht ihr Mann in Uniform. Sie winkt. Er lächelt. „So ein netter Polizist“, sagt eine Frau, die wir nicht kennen.
Ein paar Jahre später, die Dauerwellen wieder aus der Mode, noch immer das Ehrenamt im Umweltschutz. Volleyball am Naturfreibad, kein Mensch ist da außer uns auf dem Sandplatz. Wahrscheinlich bin ich der Jüngste. Ich hechte nach einem Ball und schürfe mir durch die lange Hose die Knie blutig. Ich spiele weiter. Als die Dämmerung unser Spiel beendet, will meine Mutter noch aufs Dorffest. Meine Knie kümmern nicht. Später betreten wir den Wald, das erste Drittel des einstündigen Wegs nach Hause. Ich sehe die Hand vor meinen Augen nicht, ich erkenne den Fußpfad nicht. Meine Knie schmerzen und jede Zelle in mir schreit Alarm in der Finsternis des Waldes. Meine Mutter kümmert alles nicht. Sie schreitet voran, sicher, rasch und unbarmherzig.
Jahrzehnte später. „Früher, da hatte ich mir gar nichts gedacht“, sagt sie oft. Nun sind da die dunklen Träume. Die Sorgen. Und die Vorsicht. Als Kind saß ich auf einem ungesattelten Pferd und wenn ich herunter rutschte, rutsche ich eben herunter. Da hatte sie sich gar nichts gedacht. Nun führt sie das Pferd. Geht es im Schritt. Trägt das Kind einen Helm. Sichert eine Begleitperson. Schaut meine Mutter voraus. Und dann bockt das Pferd trotzdem. Die Enkelin fliegt, doch die rettende Hand der Begleitperson ist, schneller als jeder Gedanke, zur Stelle. Und meine Mutter weint.
Text: Zeilentiger
Versöhnung durch die nachfolgende Generation. Ich mag den Stil. Die kurzen Sätze, die Sache mit den Fotos.
Danke dafür.
Ich habe deine Texte schon immer gerne gelesen, diesen hier auch, es steht viel geschrieben, zwischen den Zeilen.
Herzliche Grüße, Ulli
Danke, liebe Ulli. Ja, der Raum zwischen den Zeilen … Ich musste, wollte, Raum lassen, weil der im echten Leben nicht viel Abstand bietet. Herzliche Grüße
Dein Text berührt mich, lieber Holger. So selten ist es am Ende wohl gar nicht, dieses quasi nachgeholte Muttersein…
Danke, liebe Maren. Oh ja, das sehe ich allenthalben. Was zwischen zwei Generationen unausgesprochen, wird mit der dritten versucht auszugleichen mit vollem Herzen. Herzliche Grüße in den Norden
Hm. Weint sie wirklich? Oder wäre es schön, wenn sie schließlich geweint hätte?
Mein Vater verweigerte mir früher das Pflaster fürs Knie.
“Da muss Luft dran. Sei keine Memme.“
Also war ich keine und trug meine Schorfwunden mit Würde. Dann wurde Vater 70 und ich vergrößerte alte sehr kleine Kindheitsfotos von ihm. Darauf war er ungefähr 10, kurze Hosen. Stahlhelm auf und – Pflaster auf nem Knie.
Ein sehr lustiger Geburtstag mit einem sehr schweigsamen Opa.
Tja, wie es wirklich ist und war? Aber das ist doch auch spannend: Jeder schriebe die eine gleiche Geschichte anders.
Danke für deine schöne Anekdote.
Man könnte doch sehr ins Erzählen kommen. Erstmal lese ich! Danke für das hier! Und von „Altbekannten“ wie dem Herrn Zeilentiger lese ich achtmal so gerne!
Gruß von Sonja
Liebe Sonja, das freut mich wirklich sehr. Und ich bedaure, dass ich zur Zeit nicht mehr zu bieten habe. Herzlichen Gruß
Ein Generationenportrait, dessen Fortsetzung ich nach dem letzten Satz gern läse, aber ich denke/glaube, das Wesentliche verstehe ich auch so.
Lieben Gruß von Natascha
Schön! Danke, liebe Natascha. Und die Fortsetzung, tja, dafür bietet hier jeder Tag neuen Raum … Herzliche Grüße