24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 6: Andreas Zahlaus

Mutmaßungen über meine Mutter, die ich so nicht erfüllen kann,
denn dazu gehört mein Vater.
Nur in der Beziehung zu ihm, ist es mir möglich, sie zu begreifen – nicht dass sie keine selbstständige Persönlichkeit gewesen wäre, nein, das nun wirklich nicht – die Liebe zwischen beiden war aber ausschlaggebend für ihren Umgang mit mir und meinem Bruder.

Ein Gefühl von Geborgensein, in einer uns nicht immer freundlichen Umgebung, absolute Freiheit – die nicht grenzenlos sein durfte und eine unendliche Liebe zu uns, den Kindern. Das war beider Umgang mit uns, bis zu ihrem Tod.
Das ist mein Gefühl für meine Eltern.

Meinen Vater habe ich irrsinnig geliebt, alles an ihm, sein „Auftreten“, seinen Gang, seinen Geruch…..der ist wieder da, jetzt, im Augenblick wenn ich diesen Text schreibe… und vor allen seinen Stolz, sein Rückgrat!
Und da kommt meine Mutter „ins Spiel“ – eine zarte, schöne Person, die etwas Unsicheres, Angenehmes aber, an sich hatte, bis zu ihrem Tod und ich begreife, dass alles, was sie uns gab, mit Liebe verbunden war.
Meine Mutter kam mit ihren Eltern Anfang der dreissiger Jahre nach Deutschland, da war sie zehn. Essen war die Stadt, in der sie deutsch lernte, zur Schule ging … die Zeit ihrer Jugend, die mit dem zweiten Weltkrieg ein abruptes Ende fand. Das Ruhrgebiet, als wichtiger Industriestandort, wurde das Angriffsziel von großflächiger Bombadierung anglo-amerikanischer Kampfeinheiten. Die riesige Angst im Luftschutzkeller, dies fast täglich,
das brennende Haus, das über einem zusammenstürzt, verschüttet zu sein, vielleicht nicht gefunden zu werden….

Das hat sie geprägt, wie dieser Krieg eine ganze Generation für immer geprägt hat. Ihre Familie wurde nach Zwickau evakuiert, dort hat sie meinen Vater kennengelernt, geheiratet, zwei Söhne geboren. Gewohnt haben wir in der Villa meiner Großmutter.

Während mein Vater in allen möglichen und unmöglichen Berufen versuchte, Geld zu verdienen, was mit der Übernahme einer Briefmarkenhandlung mehr schlecht als recht dann gelang, bekam ich von all dem nichts mit. Meine Mutter schaffte es immer, mir Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln, leider waren meine Großmütter, die mich über alles liebten … auch ich war begeistert von beiden – eine wahre Plage für sie. Und das, solange beide lebten – einundzwanzig Jahre die eine, vierundzwanzig Jahre die andere Großmutter. Die eine ein täglicher Pflegefall – ich kenne sie fast nur im Bett – eine gesunde Frau, die mit allen möglichen Schwächen ihre Umwelt tyrannisierte, die andere war der Meinung, dass eine Ungarin nicht für ihren erstgeborenen Sohn gut genug ist.
Meine Mutter hat oft geweint. Ich habe getröstet. Mein Vater hatte zornige Auseinandersetzungen mit den Großmüttern.
Bis zum Bau der Mauer waren wir fast jedes Jahr in Innsbruck, München, Essen, Amsterdam – Freunde meines Vaters, meiner Mutter und Familie besuchen. Einige Momente mit meiner Mutter sind bei mir in Erinnerung geblieben aus dieser Zeit. Das Treffen mit ihrer Schulfreundin Irmgard in Essen. Unheimliche, nicht endende Freude bei beiden Frauen und die absolute  Beherrschtheit und Ruhe meiner Mutter, als wir am 12. August im Zug nach Stralsund in den Urlaub wollten, mein Vater in Schönefeld mit anderen Männern aus den Zug geholt und verhaftet wurde. Am 13. stand die Mauer.

Es gab nie Ärger oder eine Bevormundung von meinen Eltern, was die Wahl meines Studiums betraf – gut, mein Vater erklärte mir sehr lustig den Ernst der Lage, als Künstler zu leben, aber das war es schon und die Freude über die endlich bestandene Aufnahmeprüfung war bei beiden groß. Viele Jahre später, ich habe schon als freischaffender Maler und Bildhauer gearbeitet und kam zu Besuch, erzählte meine Mutter von der Nachbarin, die wissen wollte, ob ich  das Studium an der Kunsthochschule abgeschlossen hätte und ob man damit Geld verdienen kann…
„Ich habe ja gesagt, natürlich, und musste lügen … stimmt doch Andi, oder?“

Maria Erzsèbet Zahlaus, geborene Horvàth, geboren in Budapest am 17. Januar 1922 , gestorben in Zwickau am 7. Januar 2006.

Text:  Andreas Zahlaus

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