24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 3: Ulli Gau

Mutter, Mutter, wie weit darf ich in deinen Schatten reisen, den du warfst?

Zum Fürchten – dein unberechenbarer Stachel. Zum Lieben – dein Walzertanz. Zum Verwundern – so Vieles. Und so viele Wunden.

Deine Geschichten, die du immer anders erzähltest, was erzählen sie im Dazwischen?

Immer gibt es ein Vermissen, ein unbestimmtes Sehnen, einen Tauchgang hinab ins Jenseits aller Begierde, wo der Mond und der Himmel grünen. Die Mutter kannte das nicht, ihr Alp färbte die Welt in grelles Schwarzweiß und nichts dazwischen. Vielleicht hätte es der Vater gewusst, aber er schweigt, wie er immer geschwiegen hat – aus seinem Grab hinauf.

Eine verletzte Frau, ein Trauma hinter schöner Stirn, Gefangenschaften, manche kann ich nur erahnen. Mutter, die Frau mit den Wechseltemperaturen von kalt bis heiß, lauwarm der Durchschnitt. So viele Verluste! Deine Gewinne rechneten sich am Ende nicht.

Müde, nylonbestrumpfte Füße rieben am Abend Wärme in die zerquetschten Zehen. Mondänität, Milupafläschchen, Fertigknödel, Etuikleider und Pfennigabsätze, dazwischen ein strafender Gott. Am Ende standen halbherzige Versöhnungen.

Das Unaussprechliche fand keine Worte, in kein Ohr und auf kein Papier. Mutter, so fern – in ein Stachelkleid gehüllt. Flucht, Krieg und Bombenhagel, dann kleine Fluchten und Größenwahn. Das belastete Herz fand kein Ventil.

Mutter, du Frau hinter den Nebeln, tanze, dann bist du schön.

 

Text und Bild: Ulli Gau

6 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 3: Ulli Gau

  1. Schön, wie auch hier das Motiv des Tanzens eine versöhnliche Rolle spielt. Versöhnung mit der Welt, mit all den Wunden, die sie den Müttern zugefügt hat. Sie hatten es schwer unsere Mütter. Scheinbar allesamt. Gut, dass sie hier einen Platz der Würdigung finden.

    1. Und weil sie es so schwer hatten, ist es nur gut, wenn am Ende eine Versöhnung steht. Das Kind hat von all dem nichts gewusst, aber es ahnte, dass es viel Unaussprechliches gegeben hat. Als erwachsene Frau durfte Mitgefühl wachsen und wurde ich meinem Mädchen die Mutter, die sie nie hatte.
      Hab herzlichen Dank für deinen Kommentar, der mich sehr freut.
      Herzliche Grüße
      Ulli

  2. Danke, liebe Ulli, für den berührenden Text. Unsere Mütter hatten einfach wenig Möglichkeiten ihre Kriegs-Traumata aufzuarbeiten. Das Leben musste irgendwie weitergehen. Zum Glück hatten wir mehr Freiräume, uns der Themen anzunehmen, so schmerzlich es auch war. Im Tanz konnten sie vielleicht ein wenig loslassen. Meine Mutter hat auch gerne getanzt und gesungen. Herzensgrüße, Susanne

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