24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 22: Claudia Kilian

Kriegskind. Geboren im Bombenhagel einer Industriestadt. Im Mutterleib schon an das Heulen der Sirenen gewöhnt, das Krachen der abgeworfenen Bomben gehört. Den Soldatenvater als Eindringling erlebt. Sich geschämt. Für Armut und Kneipengeruch.

Herangewachsen und hübsch geworden. Kokett. Pläne im Kopf. Zukunftsfantasien.

Ein Basta stoppt jede Möglichkeit zur Ausbildung.

Sie traf den einen und zusammen genügten sie sich. „Ich war verheiratet, hatte zwei Kinder und war mit dem dritten schwanger, aber wählen durfte ich nicht.“ Sie wiederholte es oft, es schien ihr etwas auszumachen. Für Parteipolitik interessierte sie sich nicht.

Die Kinder, sie schrien zu schrill. Sie weinten zu viel. Sie lachten zu laut. Sie störten so sehr.

Nichts konnte diese Leere füllen. Nicht die neueste Waschmaschine, der Kühlschrank, die Stereoanlage, der Fernseher, die größere Wohnung, das Haus im Wald, die neue Stadt und die nächste Stadt, die Wohnzimmerwand, der immer höhere Kredit. Immer weiter, immer weiter. Neue Leute, neue Freunde, neue Leben, neue Arbeit.

Immer weiter. Nicht anhalten, nicht innehalten.

Nur keine Ruhe.

Die Kinder, sie wurden älter und gingen dann wieder. Freiwillig oder mit unverhohlenem Druck.

*********

Heute sitzt sie still.

Diese schreckliche Krankheit hat zugeschlagen. Hat ihr die Zeit und den Ort geraubt.

Sie begrüßt mich freundlich und fragt vorsichtig, wie es den Kindern geht.

Das ist klug, denke ich. Deine Kinder, wäre falsch. Sie geht das Risiko nicht ein, falsch zu liegen.

Den Kindern geht es gut, sage ich. Allen Kindern geht es gut.

Das ist schön, sagt sie. Das ist sehr gut.

Text:  Claudia Kilian

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