24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 21: Andreas Glumm

Sag Mutter, ich hab Scheiße gebaut

Am Abend zuvor hatte ich schwer getrunken, in meinen 32. Geburtstag rein, mit Karlos und anderen Verwirrten, im Mumms, unserem großen verrauchten Wohnzimmer. Das war Usus. Das war 1992. Wenn jemand Geburtstag hatte, traf man sich am Tresen und die Zapferin spendierte zunächst ein Tablett Bier, als Starterpaket. Und dann gings weiter. Dann gings los. Bier, gekühlte Schnäpse, vor der Tür kiffen, im Auto koksen, alles was ging.

Und was nun den nächsten Morgen betraf, da gab es regelmäßig zwei verschieden verkaterte Zustände. Den einen, wo ich immer noch so betrunken und voller Speed im Blut erwachte, dass ich das Gefühl hatte, den Rock’n Roll neu zu erfinden, und den anderen, wo ich, kaum wach geworden, so deprimiert am Bettrand hockte, dass ich mich fragte, wie zum Henker ich diesen Tag überstehen sollte. Wenn in der Frühe der Blues anrollte, die Depression, das war, als übernähmen schwarze Männer das Kommando im Maschinenraum.

Eigentlich bin ich ja der Meinung, wenn schon eine Borderline-Depression, dann eine schusselige Borderline-Depression. Wo man zwischendurch einfach mal vergisst, wie mies drauf man ist. Damit lässt sich arbeiten.

*

Nachmittags überraschte mich die Gräfin, vier Tage vor ihrem eigenen 30. Geburtstag, mit einer kleinen Käsesahnetorte, obenauf 32 bunte Spaßkerzen, die sich, sobald man sie ausblies, sofort wieder selbst entzündeten. Dieses Spielchen, das kein Ende zu nehmen drohte. Ich pustete die Kerzen aus, sie entzündeten sich wieder von selbst. Egal, wie kräftig ich Luft holte.

“Die scheiß Dinger gehn überhaupt nich aus!” rief ich erbost und zweiunddreißig Jahre alt. „Das ist Sisyphus!“

Scheisse, war das anstrengend. Ich war ziemlich hinüber vom Saufen. Ich mein, ich hab mich solche Sachen nie gefragt, ich hab es stets als gegeben hingenommen, als vom Schicksal dazu verdonnert, irgendwann als Trinker zu enden, als Junkie, als Tabakraucher, doch jetzt, wo ich älter werde und nur noch das nötigste zu mir nehme, also, da frage ich mich schon, warum ich eigentlich ständig diese Drogen in mich reingeschüttet habe. Ich hätte es ja auch sein lassen können.

Oder etwa nicht.

Ich erinnere mich an einen Tag in den späteren Neunzigern, als ich innehielt und dachte: wenn du dir heute noch ein Pack besorgst, dann kannst du nicht mehr zurück. Dann schaffst du es nicht mehr. Dann ist es zu spät. Dann bist du genau in dem Kreislauf gefangen, der dich einst so abgestoßen hat, weil all die süchtigen Bekannten am Ende nur noch tumb und wächsern rüberkamen. Und schon stapfte der Desperado in mir los und besorgte sich Pulver. Fast schon ein bisschen stolz, eine Entscheidung getroffen zu haben. Zwar eine, die in den Untergang führte, aber immerhin, eine Entscheidung.

*

Später an meinem Geburtstag im September 92 holte meine Mutter mich zu Hause mit dem Wagen ab und wir fuhren in die Stadt, Schuhe kaufen. Unser jährliches Ritual. Es gab zum Geburtstag ein Paar Schuhe oder eine neue Hose, eine neue Jacke – irgendwas Praktisches. Für den Jung. Ein Ritual, das irgendwann in dieser Zeit endete. Möglicherweise war es 1992 das letzte Mal, dass wir den Geburtstag auf diese Art begingen, Mutter und ich.

Es gab Dinge zwischen uns, die sich unnatürlich lange hinzogen. Dazu gehörte das Schneiden der Fingernägel. Weil wir keinen Knipser im Badezimmer hatten und ich nicht in der Lage war, mir selbst (mit links) die Fingernägel der rechten Hand zu schneiden, mit der Nagelschere, übernahm meine Mutter die Grundpflege, die Nagel-Toilette, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wo ich von zu Hause auszog. Da war ich 21. Aber es hatte auch etwas, es war eine schöne kleine Intimität, die wir uns bewahrt hatten. Ich legte meine Hand in ihre, und sie begann die Nägel zu schneiden – nicht zu schnell, nicht zu langsam, und vor allem: nicht zu kurz die Nägel, genau richtig eben. Ich glaube, wir haben uns dieses kleine Ritual so lange bewahrt, weil es einen Moment der Nähe gestattete zwischen Mutter und Sohn. Ich roch gern das Nivea auf ihren Wangen, und ich schaute mir gern ihre Hände an, so wie ich als Kind nicht genug von den Händen meiner italienischen Großmutter bekam. Von den Adern, den blauen Schlangen.

Wir parkten in der Tiefgarage des Turm-Zentrums, wo ich nachts im Turm-Hotel als Nachtportier arbeitete. Mutter erzählte irgendwas von Tante Sonja, ihrer Schwester, ich saß auf dem Beifahrersitz. Ich war ziemlich mundfaul. Platt vom Saufen, kein Pulver in der Tasche. Im Karstadt wurden wir schnell fündig. In der Schuhabteilung. Ein Paar dunkelrote Wildlederhalbschuhe Landlord Italy, 179 Mark.

(Schuhe sind wie Zähne. Jeder achtet beim Anderen darauf, wie sie in Schuss sind.)

Im Karstadt-Restaurant tranken wir noch eine Tasse Kaffee, als zwei Tische weiter plötzlich Kilian Platz nahm, mit dem Tagesgericht auf dem Plastiktablett. Kilian, mein damaliger Heroindealer. Wir grüßten uns überrascht per Handzeichen, und mein Herz tat einen Sprung. Ich war auf der Stelle so scharf auf Schore, dass ich automatisch gute Laune bekam. Kilians Anblick hatte den Knopf in mir gedrückt. Den Überbringer von Rauschgift zu sehen war für mich gleichbedeutend mit seiner euphorisierenden Ware. Da saßen plötzlich 70 Kilo Lebend-Morphin in meiner direkten Umgebung, nur zwei Tische entfernt, im Warenhaus. Ich fieberte wie im Tagtraum. Mein Mutter hatte mir zum Geburtstag etwas Geld geschenkt, obenauf zu den neuen Halbschuhen. Ich konnte mir also eine Kleinigkeit leisten. Genug, um auf die Beine zu kommen und den Nachmittag mit Mutter erträglicher zu gestalten.

„Ich geh mal jemandem hallo sagen”, sagte ich und schwang rüber zu Kilian. Er schwitzte. Er sah schlecht aus.

“Ich glaub, ich krieg grade einen Affen,” sagte er und riss die Augen auf. Er hatte Pupillen wie Wagenräder.

Ich verstand nicht.

“Hast du was dabei?” ließ ich mich nicht beirren.

“Nee, jetzt muss ich mich erstmal um mich selbst kümmern“, zischte er. „Das sieht man doch wohl, oder?!”

Er stand genervt auf, packte das Tablett mit dem vollen, noch nicht angebrochenen Teller (Nudeln mit Sahnesauce) und brachte es zur Kasse zurück. Er redete mit der Kassiererin. Ich hörte was von „Warmstellen“ und dass er in 10, spätestens 15 Minuten wiederkäme. Kilian drehte sich kurz zu mir um, machte ein Handzeichen: ruf mich später an, während ich schlechtgelaunt zu Mutter zurückkehrte.

“Was ist denn mit deinem Bekannten?”

“Dem ist schlecht geworden. Dem geht’s nicht gut.”

“Ja, aber nicht vom Essen, oder? Der hat doch gar nichts gegessen. Der hat sich doch gerade erst zum Essen hingesetzt.”

“Ja. Weiß nicht. Keine Ahnung.”

Scheisse. Arschloch. Irgendwas stimmte da nicht. Wahrscheinlich hatte er eine Lieferung nicht bekommen und nun rationierte er sein Pulver so drastisch, dass er mit beginnendem Affen unterwegs war. Aber, um im Karstadt etwas zu essen…?! Kein Junkie hat je Hunger, wenn er affig ist.

*

Um 22 Uhr am selben Abend begann meine Nachtdienstwoche. Sieben Nächte am Stück. Auf dem Weg zum Hotel klingelte ich bei Kilian, der über der Pizzeria wohnte, doch er öffnete nicht. Es war auch kein Licht zu sehen im Dachgeschoß. Mir blieb nichts anderes übrig, als die erste Nacht im 32. Lebensjahr clean zu verbringen.

Die Rezeption befand sich oben im 11. Stock des Turm-Zentrums, bei klarer Sicht konnte man bis Köln gucken, oder bis Leverkusen, aber wer wollte schon bis Leverkusen gucken. Was gab es da schon zu sehen, außer das beleuchtete Bayer-Kreuz in der Nacht und ein paar tausend Industrie-Arbeitsplätze. Freunde, die im Hotel zu Besuch kamen, standen gern am Panoramafenster im Frühstücksraum und genossen die Aussicht. Sie wollten wissen, wo Köln lag, wo Düsseldorf. Sogar nach Holland fragten die Leute. Aber nach Leverkusen? Nie fragte jemand, wo liegt Leverkusen. Ich meine, es leuchtete das rote Bayer-Kreuz in der Nacht, es funkelte so frostig, dass jeder sofort wusste:

Leverkusen.

*

Ein paar Tage nach dem Geburtstag besuchten die Gräfin und ich meine Eltern, wir standen auf dem Balkon. Die Sonne schien auf die Tannen, sie dampften in Reih und Glied. Die Gräfin fummelte mir eine ausgefallene Wimper von der Backe und hielt sie mir hin, auf einer Fingerkuppe, zur Begutachtung. Dann durfte ich die Wimper wegpusten und mir dabei etwas wünschen. Noch bevor ich fertig war, rief sie erschrocken: „Scheiße! Jetzt hab ich mir aus Versehen auch was gewünscht..! Ich meine, nicht dass das eine Rückkopplung gibt, hinterher!“ Sie verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas Saures gebissen.

Später stand ich mit Mutter auf dem Balkon. Nur wir beide alleine. Sie kam auf das Paar Schuhe zurück, warum ich es nicht anhatte. Nur so, sagte ich. Dann fragte sie mich aus heiterem Himmel, ob ich Heroin nähme. Sie fragte nicht, Andreas, mein Sohn, nimmst du Drogen? Rauchst du Hasch oder so ein Blödsinn. Nein. Sie fragte mich schnurgerade ins Gesicht: Nimmst du Heroin? Ihr Ton war nicht böse, auch nicht ängstlich, nein, einfach neugierig. Ich war so baff, die Frage von Mutter zu hören, dass ich ihr aufrichtig ins Gesicht lügen konnte. Ich? Heroin? Bist du verrückt? Ja, wie kommst du denn darauf?

Nichts ist abstoßender im Leben als sich selbst beim Lügen zuzuhören.

Text:  Andreas Glumm

 

5 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 21: Andreas Glumm

  1. und so ein dickes Ding auch noch der eigenen Mutter gegenüber, „omg“ würden die Jüngeren sagen. die Hände einer italienischen Großmutter haben mich noch viel mehr beeindruckt, die sähe ich gerne mal gemalt!-

  2. Pingback: Karlos | glumm
  3. Wie gut ich sie kenne, diese plötzliche Gier sobald das begehrte Material zu wittern ist.
    Im Laufe der Jahr(zehnte) läßt sie zwar nach, aber immer noch träumt man davon.
    Und jedes verdammte Mal kommt man nicht zum Zuge und erwacht frustriert und unzufrieden.
    Danach ist der Tag gelaufen …

  4. Nichts ist abstoßender im Leben als sich selbst beim Lügen zuzuhören.
    Glumm hat recht.

    Ähnlich ist es, wenn man jemanden reden hört, der eine zu erwartende Floskel von sich gibt.
    Eine Absonderung fast ohne Seele. Kopflos. Wie ein Rezitieren, aber ohne Absicht dazu.

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