24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 2: Andreas Wolf

Die linkshändige Frau

Meine Mutter war immer fremd in der Welt. Als Spanierin zur Welt zu kommen in Jena, im Mai 1939, den Namen „Maria del Pilar Gómez de Ortega“ durch die Welt zu tragen im Nazideutschland, eine Kindheit komplett im Krieg, wer kann sich das schon vorstellen? Ihre erste Erinnerung, so erzählte sie immer, war das Bild der brennenden Stadt Jena. Überstürzt waren sie beim Aufheulen des Luftalarms in den Keller gerannt, die ganze Familie, meine fünfjährige Mutter in Strumpfsocken, Stunden müssen sie da so gesessen haben, während über ihnen die Stadt in Flammen aufging. Und meine Mutter nervte dann alle so mit ihrem Wunsch, nach oben in die Wohnung kurz zu huschen, nur um sich schnell Schuhe anzuziehen, dass ihr Vater schließlich nachgab, und noch vor der offiziellen Entwarnung mit ihr nach oben ging. Was sie dort sah, sollte sich ihr fürs Leben einprägen: Die Fenster der Wohnung geborsten, zersplittert, die Scherben waren überall, auch im Milchreis, den die Mutter kurz vor dem Luftangriff noch zubereitet hatte. Und draußen die brennende Stadt. Unfassbare Minuten im Leben eines Kindes. Dass der Vater den Milchreis zum Müll schmiss, war ihr unverständlich, ob man die Scherben da nicht mit der Hand schnell rauspicken könnte, und den Rest dann noch verspeisen? Verständlicherweise blieb der Vater hart. Ihr Leben lang war meine Mutter eine, die kein Essen wegschmeißen konnte.

Aber auch in der eigenen Familie blieb sie irgendwie fremd. In Jena ging meine Mutter auf so eine Reformschule, wo man die Linkshänder einfach Linkshänder sein ließ. Als die Familie aus Angst vorm Kommunismus dann 1949 nach West-Berlin flüchtete, wurde meine mittlerweile zehnjährige Mutter plötzlich von der Schule gezwungen, mit der rechten Hand zu schreiben, das muss furchtbar gewesen sein. Den Stift hielt sie auch später in der rechten Hand, so gründlich war die Umerziehung vonstatten gegangen. Aber während alle in der Familie Bücher lasen wie die Verrückten, war meiner Mutter alles Schriftliche verhasst. So verspotteten sie ihre Geschwister, man habe sie als Säugling auf der Straße aufgelesen, sie sei gar nicht wirklich verwandt mit den anderen. Dass ihre Ablehnung der Schriftwelt von der Traumatisierung durch die zwangsweise erfolgte Umerziehung der Schreibhand herrühren könnte, auf den Gedanken kam niemand, auch sie selber nicht. Als ich ihr diese Theorie einmal präsentierte, war sie ganz überrascht.

Meiner Mutter lag das Praktische näher als die graue Theorie, sie wollte lieber Dinge machen, anstatt lang drüber zu reden oder schlaue Bücher zu lesen. Folgerichtig brach sie nach der zwölften Klasse das Gymnasium ab und machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Den Eltern war das nicht recht, die waren beide Akademiker, was damals noch unüblich war, dass auch meine Großmutter einen Hochschulabschluss hatte, aber meine Mutter setzte sich durch, sie hatte die Schnauze von der Schulbank voll. So war sie das einzige von sechs Kindern ohne Abitur, Außenseiterin auch hier.

Dass die Spanierin aus Preußen schließlich in Bayern eine Heimat fürs Leben fand, verdankte meine Mutter dem Bau der Berliner Mauer. Eigentlich wollte sie nämlich mit einer Freundin nach Italien reisen im Sommer 1961, doch dann begann die DDR plötzlich, eine Mauer mitten in Berlin aufzurichten, und der Freundin wurde die Reise jetzt zu riskant, sie wollte lieber in Berlin bleiben, wer wisse schon, was gleich als nächstes noch passieren würde? Ob man überhaupt nach Berlin wieder zurückkommen könnte? Meine Mutter war da weniger ängstlich, doch ihre Eltern wiederum wollten sie nicht unbegleitet nach Italien reisen lassen, also fuhr sie zu ihrer Cousine nach München, die beiden machten einen Tagestrip zum Staffelsee, wo mein zukünftiger Herr Vater zufälligerweise an dem Tag auch kurz reinsprang, und die Dinge nahmen ihren Lauf. So gesehen verdanke ich meine Existenz wirklich dem Mauerbau. Ohne ihn hätten meine Eltern sich niemals kennengelernt.

Als mein Vater seine neue Freundin zum ersten Mal mitnahm zum Stammtisch mit seinen Spezln, da blieb sie ganz lange stumm, weil sie den bayrischen Dialekt so gut wie nicht verstand. Die Freunde wiederum hatten noch nicht so wahnsinnig viele hübsche Spanierinnen gesehen in ihrem Leben. So bestaunte man sich gegenseitig, bis meine Mutter doch einmal einen Satz sagte, woraufhin der ganze Tisch schlagartig verstummte, einer der Freunde meines Vaters sich erstaunt zu ihm umwandte und sagte: „Die ko ja Deitsch!“

Nach der Trennung meiner Eltern rieten ihr viele, von Oberammergau wegzuziehen, ein neues Leben anderswo zu beginnen, aber sie hatte hier Wurzeln geschlagen. Sie, die Zugezogene, liebte dieses Dorf vielleicht mehr als alle die Einheimischen, denen die Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft wie selbstverständlich zufliegt. Für meine Mutter war das harte Arbeit gewesen, hier wollte sie nie wieder weg. Ich danke ihr diese Entscheidung bis heute, so wie ich ihr so vieles danke, und Trauer erfüllt mein Herz, wenn ich daran denke, wie wenig ich ihr diese Dankbarkeit zu Lebzeiten gezeigt. Wie oft ich sie geschimpft, ihre Sturheit verflucht habe. Oft hätte ich besser die Klappe gehalten.

Was soll ich mutmaßen über meine Mutter, im Februar werden es fünf Jahre, dass sie nicht mehr lebt, ich vermisse sie wie niemanden sonst, gleichzeitig spüre ich ihre Präsenz oft ganz deutlich. Ganz kurz nach ihrem Tod fuhr ich nach München, weil ich für meinen alten schwarzen Anzug zu dick geworden war, ich brauchte also einen neuen für die Beerdigung. Und da hörte ich praktisch ihre Stimme in meinem Kopf, wie sie sagt: „So etwas kauft man beim Hirmer, oder beim Konen.“ Und so ging ich halt als erstes zum Hirmer, wo ich einem Verkäufer mein Anliegen erläuterte, ein Beerdigungsanzug, und er fragte mich, wer denn gestorben sei. Meine Mutter, erwiderte ich. Und er erzählte dann vom Tod seiner eigenen Mutter, der auch erst vor ein paar Monaten gewesen war, das war kein Verkaufstrick, ich verstand alles, was der Mann mir sagte. Der Anzug, den wir schließlich zusammen fanden, war ideal. Er überreichte ihn mir mit den Worten: „Die Mama ist halt die Mama.“ – „Die Mama ist die Mama“, antwortete ich, denn es gab darüber hinaus nichts weiter mehr zu sagen.

Text:  Andreas Wolf

10 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über meine Mutter, Tag 2: Andreas Wolf

  1. Der Text zündet ein paar ganz eigene Erinnerungskerzen.

    „Hochdeutsch in Bayern der Oma wegen“

    – Jo kennich a abissel woas. Herocke, woas ich dor jetze wär dorzähln.“ (Auch ein Dialekt, aber nicht bayrisch)

    Meine Vorfahren sind Sudeten. Alle. Die von meinem Kumpel zu EOS-Zeiten nur mütterlicherseits.

    Eines Tages amüsierten wir uns darüber, dass ein dritter Mitschüler von der Klassenlehrerin gelobt wurde, weil er den Unterschied zwischen Hallenser und Dresdner sächsisch vorexerzieren konnte. Und als Zugabe hatte er noch Rostocker Fischie-Slang draufgepackt.

    Auf dem Heimweg erörterten wir beide nun wiedereinmal, dass unsere Lehrer uns nicht kannten und immerzu die Falschen für das Falsche loben.

    „Peter is nu für die der Dialektkönner.“
    „Mehr als die dreie darf se och nich kenn‘ ohne zugeben zu müssen, dasse Westen guckt.“
    „Wir hätten ja noch bayrisch oder hessisch ins Spiel bringen können.“
    „Nä, geene Gabidalistensprache in dor Schule dor Gader von morchn! Da wärd das nüschd mitn Gommunismus Juchndfreund!“

    Kleine Lachpause.

    Er: „Ich kenn noch sudetendeutsch von Oma her.“
    Ich „Ich auch.“
    Er: „Du? Du kennst es nicht bloß. Du hast es gesprochen!“
    Ich: „Echt? Wann denn?“
    Er (stehenbleibend): „Noch in dor 8.Klasse immerzu. Jetze nich mehr so dolle.“
    Ich (grinsend): „Tu og nee spinn.“

    War doch von Großmutter und Oma allerhand abgefärbt, ohne dass ich es mitbekam. bis dahin (ungefähr 10.Klasse) hatte mich nie jemand drauf hingewiesen.

  2. Ach wie schön, Andreas. So eine schöne Liebeserklärung an die Mutter. Was ich bemerkenswert finde, meine Mutter hat ähnliches von ihren Geschwistern erzählt, dass sie ihr erzählten, sie gehöre nicht wirklich dazu, Zigeuner hätten sie vor die Tür der Eltern gelegt.

  3. Meine schwangere Mutter kam 1945 nach Bayern, weil Görlitz wegen der drohenden Zerstörung evakuiert wurde – sie verstand dort wohl auch kaum etwas. Die Schwestern im Krankenhaus haben sich bei der Entbindung wohl große Mühe mit dem Sprechen gegeben, so dass sie mich problemlos zur Welt bringen konnte.
    Wenn nicht mein Vater im Mai 46 mit dem Fahrrad tödlich verunglückt wäre und sie Hals über Kopf abreiste, um ihn beerdigen zu können, wäre ich vielleicht in Bayern aufgewachsen und nicht in einer Stadt an der polnischen Grenze.

      1. Aus der Strauß-und Söder – Sicht bestimmt nicht. Karriere hätte ich sicherlich eine weitaus bessere gemacht, bloß ob das fürs Glück ausschlaggebender gewesen wäre, wage ich sehr anzuzweifeln.

          1. Sicher weiß man das nicht – aber alles, was ich studiert hätte, konnte ich in diesem System nicht. Jura – da sträubt sich mir noch heute das Fell. Bei Journalistik wäre ich in der Feuilletonabteilung der schlechtesten Zeitung gelandet.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.