1 Käfer und Schmetterling
Scheitern ist ein dicker Käfer, der auf den Rücken gefallen ist. Etwas hat nicht geklappt, jemand hat nicht bekommen, was er oder sie wollte/verdiente/die Peergroup erreicht hat/erwartet wurde.
Freiheit ist ein bunter Schmetterling, schillert in allen Farben, lässt sich nicht greifen. Wahlmöglichkeiten, keine Einschränkungen, ungestörte Entfaltung (Demokraten, Impfskeptiker, Freie-Fahrt-für-Freie-Bürger-Verfechter und der Achtzehnjährige heben die Hand – und stellen sich unterschiedliche Dinge vor). Endlich mal ausschlafen können (sagt der Vierzehnjährige). Der leere Raum nach dem Ausmisten (der innere Buddhist nickt begeistert und ruft: „Nichtanhaften“). Das Bewusstsein, die eigene Haltung wählen zu können, zu den Optionen in einer Situation, zu den Dingen, die nicht zu ändern sind (irgendwo im Hintergrund nicken Kant und Frankl sich zu).
2 Erzählungen
Die Erzählungen vom großen Erfolg: die Heldenerzählungen – Losziehen, den Drachen besiegen, das Königreich gewinnen und die Prinzessin dazu.
Die Erzählungen vom großen Scheitern: die Tragödien – Anmaßung, fehlende Informationen, falsche Entscheidungen, Schuld, Wahnsinn und Tod.
Die Erzählungen vom kleinen Erfolg: die Gutfühlherzschmalzfilme – die Liebe ist da, gleich um die nächste Ecke, die Verwicklungen lösen sich auf; ein erfüllender Beruf und Immobilienbesitz sind im Happyend inbegriffen.
Gibt es Erzählungen vom kleinen Scheitern, vom unspektakulären Weiterleben?
Eines meiner allerliebsten Lieblingsbücher ist Scarlett Thomas‘ Roman „Das Ende der Geschichten“. In dem Roman geht es um verschiedene erzählerische Grundmuster, und dem Erzählmuster des Heldenepos wird als erstrebenswerte Alternative die „Geschichte ohne Geschichte“ entgegengesetzt, in der es nicht um das Streben nach Erfolg geht. Als mögliche Hauptfiguren solcher Geschichten werden statt des archetypischen Helden die Einsiedlerin und der Narr vorgestellt: die Einsiedlerin, die nicht auszieht, um gegen einen Drachen zu kämpfen und einen Sieg zu erringen, sondern die ihre Hobbies pflegt, dem Helden und dem Drachen nach dem Kampf die Wunden verbindet und beiden ein Glas selbstgekochte Marmelade schenkt; die Narrenfigur aus dem Tarot, die den Schritt über den Abgrund wagt und dort… vielleicht scheitert, vielleicht aber auch interessante Dinge erlebt. Diesen beiden Figuren traue ich eine „Freiheit des Scheiterns“ tatsächlich zu. Vielleicht, weil sie nicht Erfolg im hergebrachten Sinne (mein Haus, mein Auto, mein Gehalt, meine Urlaubsreisen) anstreben, und sich ihnen deshalb ganz andere Freiheiten auftun, als der klassische Erfolg sie mit sich bringt?
Beim Weiterdenken ist mir Hans im Glück eingefallen. Seine Geschichte ist ganz sicher eine „Geschichte ohne Geschichte“; er ist so eine Narrenfigur, wenn er lächelnd den Beweis seines Erfolges – seinen Goldklumpen – gegen immer weniger wertvolle Besitztümer eintauscht und am Ende mit ganz leeren Händen dasteht – gescheitert, aber frei.
Sicherlich lässt sich dieses Märchen als die Geschichte eines jungen Menschen lesen, dem Erfahrung wichtiger ist als materieller Erfolg (ich setze da große Hoffnung in die jungen Generationen).
Vielleicht ist sie aber auch ein Lehrstück über ein gutes Älterwerden. Denn das Älterwerden verlangt ja gerade das von uns: die größeren Erfolge gegen kleinere einzutauschen, die größeren Fähigkeiten und Spielräume gegen immer kleinere, und am Ende mit leeren Händen ins Ungewisse zu gehen. Wer das lächelnd kann – wie Hans im Glück – der hat sie vielleicht gefunden: die Freiheit des Scheiterns (der innere Buddhist nickt wieder).
3 Privilegien
Bevor jetzt allen ganz besinnlich zu Mute wird, kommt das große ABER.
Scheitern als Freiheit zu erleben; die Freiheit zum Scheitern überhaupt zu haben: beides setzt Privilegien voraus, eine gewisse Absicherung. Ein geerbtes Haus könnte helfen, eine große, liebevolle Familie ist immer gut, ein paar Rücklagen, jemand, der einen pflegt, wenn es hart auf hart kommt. Weniger günstig, wenn man selbst für jemanden verantwortlich ist, den das eigene Scheitern dann mittrifft.
Ich kann keine, aber auch gar keine Freiheit des Scheiterns sehen, wo Menschen grundlegende Dinge wie Obdach, ihre Heimat, den Zugang zu medizinischer Versorgung, ihre haltgebenden sozialen Bindungen, die Chance auf eine auskömmliche Arbeit verlieren.
Man kann dankbar sein, dass wir in einem Staat leben, der im Grundsatz so gedacht ist, dass er Menschen auffängt, die in diesen Dingen scheitern. Aber man kann durchs Netz fallen – die große Schwester, die eine sozialberatende Tätigkeit ausübt, weiß, wie leicht das ist; die Obdachlosenunterkunft in der Kirchgemeinde hat zu wenige Plätze für den Bedarf, man muss sowieso nur hinsehen.
Ich hätte gerne, dass unsere Gesellschaft Menschen besser, und auf würdige Weise auffängt; und nicht nur diejenigen, die im Fall des großen Scheiterns noch mit ihrer eigenen Scham, mit seitenlangen Anträgen und mit vielleicht unfreundlichen und überforderten Amtsangestellten fertigwerden können.
4 Advent
Maria hätte sich das auch nicht so ausgesucht: uneheliches Kind, prekärste Zustände bei der Geburt, Flucht ins Ausland mit einem Baby. Das sehe ich viel deutlicher als die Engel und die Könige, wenn ich mir die Weihnachtsgeschichte vorstelle.
Ich bleibe skeptisch, was die Freiheit des Scheiterns angeht. Es mag sie geben; vermutlich ist es oft mehr eine Freiheit der inneren Haltung und des Loslassens als eine Freiheit erweiterter Wahlmöglichkeiten. Aber auch wenn sie hier und da erfahren werden kann, kann man sie nicht erwarten, verallgemeinern oder gar einem Scheiternden als Trost anbieten.
Sich im Nicht-Wegsehen üben, in der Solidarität mit den Scheiternden. Hans im Glück einen Teller Suppe anbieten, wenn er hungrig vor der Tür steht. Das kommt mir wichtiger vor.
Text: Greta
So ein schöner, weiser Text! Danke.
Die Freiheit des Scheiterns muss man sich erst einmal leisten können. Gut, dass du darauf aufmerksam machst.
Ich denke gerade an einen Schulkameraden, der scheinbar alle Flügel dieser Welt hatte. Ich bewunderte ihn.
Anfang seiner Sechziger zog er in die Heimat zurück. Ich traf ihn ganz unvermittelt in einer nahegelegenen Stadt, aber er war völlig einsilbig. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Einige Zeit später starb er. Ich war völlig baff, wusste garnicht, daß er wieder in seiner Heimat gewohnt hatte.
Diese Geschichte erinnerte mich auch an ein Buch von Erika Pluhar, in dem sie über eine Freundin schrieb, die über alle Vorzüge dieser Welt verfügte (Schönheit/Witz/ hohes schauspielerisches Talent) und dennoch herb in ihren späteren Jahren scheiterte.
Ein wunderbarer Text zum Thema. Danke dafür! Ja, scheitern muss mensch sich leisten können …
herzlichst, Ulli
Ein herzlicher Dank Euch für die lieben Kommentare! Unsere Gesellschaft ist wohl so durchkommerzialisiert, dass es wenig Orte und Möglichkeiten – wenig Freiheit – für jemanden gibt, der scheitert. „Umsonst und draußen“ ist kaum etwas, und dass freie, öffentliche, in ihrem Zweck nicht vorherbestimmte Orte gerade in den großen Städten weniger werden, ist in vielerlei Hinsicht traurig (aber das ist wieder ein anderes Thema). Über den Freiheitsbegriff nachzudenken, fand ich sehr spannend, die Freiheit „von“, die Freiheit „zu“… Einen schönen 2. Advent Euch allen! Greta