Mit Anfang zwanzig erwartete ich von der katholischen Kirche und ihren Repräsentanten absolut überhaupt nichts mehr, zu tief saß die Enttäuschung durch die scheinheiligen, verlogenen, sadistischen Mönche auf jener Klosterschule in der bayerischen Provinz, die später traurige Berühmtheit wegen ihrer über Jahrzehnte hinweg praktizierten Missbrauchs- und Gewaltexzesse erlangte. Und doch hatte mich der Katholizismus stark genug geprägt, dass ich nicht anders konnte als zu glauben, die Antworten auf meine ganzen Fragen nach dem Sinn des Lebens, und warum es überhaupt irgendetwas gibt, und nicht vielmehr nichts, also die eine Antwort auf die alles umklammernde Frage, was der ganze Zirkus eigentlich soll, die müsste doch auf jeden Fall in irgendeinem Buch drinnen stehen, wenn schon nicht in der Bibel, dann halt in einem andern. Ich konnte mir Erkenntnis und Erleuchtung nur als eine Schrift vorstellen. Diese erleuchtende, diese wahrhaft heilige Schrift galt es nun aufzufinden, also schrieb ich mich in München für das Studienfach Philosophie ein.
Jahrelang irrte ich da dann so ziemlich orientierungslos von Seminar zu Seminar, von Professor zu Professor, fühlte mich nirgends daheim, schrieb brav meine Einser, und blieb doch innerlich leer, kalt, ohne echte Begeisterung. Als cool galt damals in München Ludwig Wittgenstein und die ganze analytische Philosophie in seiner Nachfolge, also machte ich das auch, mühte mich damit ab, aber es blieb mir ein staubtrockenes Wortgeklaube. Durch einen Zufall eher geriet ich dann eines Tages in ein Seminar über die Monadenlehre von Leibniz, der Privatdozent B. war ein rundlicher, gemütlicher Bayer mit hörbarem Dialekt, international anerkannter Leibnizexperte, aber innerhalb des Münchner Universitätsbetriebs eher eine Randexistenz. Um ihn versammelten sich Semster für Semester immer die gleichen zehn Leute, denen schloss ich mich jetzt an, die Philosophie von Leibniz taugte mir irgendwie, da ging es um die Welt, und wie sie beschaffen ist, nicht nur um Wörter.
Und diese Welt, im leibnizschen System, besteht aus nichts anderem als nur aus Monaden. Logische Atome nennt er diese Monaden manchmal auch, oder einfache Substanzen, vor allem aber auch: Seelen. Unteilbar sind sie, und ohne Fenster, das heißt: Was die Monade sieht, das kommt nicht von außen zu ihr herein, sondern sie sieht es in ihrem Innern. In sich selbst trägt jede einzelne Monade die ganze, wahre und wirkliche Welt. Und in sich selbst trägt jede Monade auch den kompletten Plan ihrer eigenen Existenz, der sich in ihr Stück für Stück und Bild für Bild entfaltet. Von einem Bild zum nächsten fortzuschreiten, das ist der ihr eingeschriebene Wille der Monade, es passiert also, was passieren muss, weil die Monade genau das will, und nichts anderes. Und der Mensch ist sozusagen nur ein Spezialfall von Monade: Eine Monade, die sich ihrer selbst bewusst ist. Aber auch der Stein, die Pflanze oder ein Stern, Milliarden Lichtjahre entfernt – sie alle bestehen letztendlich nur aus Monaden, die sich und die ganze Welt, wie träumend, von Sekunde zu Sekunde selbst hervorbringen.
Damals an der Uni hat man über uns Leibnizianer gespottet, die anderen würden alle nur verstehen wollen, was der Platon, der Aristoteles, der Wittgenstein denn mit ihren Schriften gemeint hätten. Wir hingegen seien die einzigen, die der felsenfesten Überzeugung wären, das von unserem gescheiten Herrn Leibniz Geschriebene sei auch wirklich richtig. Da mag etwas dran sein. Wenn ich hier jedenfalls versuche, die Monadologie in ein paar allgemein verständliche Sätze hineinzukriegen, dann erscheint mir diese Theorie doch wirklich von vollendeter Schönheit. Das ganze Universum ist beseelt, alles ist lebendig, und alles geschieht nach einem perfekten Plan.
Bereits von seinen Zeitgenossen wurde Leibniz vorgeworfen, sein System sei ja schön und gut, aber wo bleibe darin die Freiheit? Wenn die Monade nur den Plan abspult, der ihr bereits von vorneherein eingeschrieben ist – wäre sie dann nicht ein bloßer Automat? Da könnte man jetzt ganze Doktorarbeiten darüber schreiben, worauf ich wenig Lust verspüre, deswegen sage ich bloß, und komme damit endlich zu dem hier vorgegebenen Thema: Wo es keine Freiheit gibt, da gibt es auch kein Scheitern. Und deshalb empfinde ich eine Philosophie, die die Freiheit abschafft, paradoxerweise als befreiend, weil sie mich auch vom Scheitern befreit.
Wenn also die Leute sagen: „Es ist so, wie es ist“, oder „Es kommt so, wie es kommt“, oder „Es hat halt einmal so sein sollen“, dann finde ich das überhaupt nicht trivial, sondern als alter Leibnizianer stimme ich dem aus tiefster Überzeugung zu.
Text: Andreas Wolf
Ich kenne das in verkürzter Form: „Es hat halt so sein sollen“.
Das „Warum“ mancher Begebenheit, etwa wieso ein höchst begabter Mitschüler später jämmerlich zugrunde ging, darauf gibt es keine Antwort wie vielleicht die: Die Option war angelegt, das Pendel neigte sich dann an der Stelle zur Seite.