24 T – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 2: Katja Schraml

wenn das schreiben scheitert beim übers scheitern schreiben

ihre brüder mussten auf holzscheiten knieen zur strafe, sagt die mutter, die nur wenig über die kindheit erzählt, wo sie das letzte von 8 geschwistern, die ihr nie vorgehalten hätten, dass sie mitten im krieg ’42 auch noch kam. der bruder hätte im fliegeralarm die milch holen müssen für sie daheim, während ihre mutter sich mit den kindern im wald versteckte. jeden morgen kämmte ihr vater den mädchen das haar + flocht ihnen zöpfe. er nahm sie mit aufm moped in die stadt + grüßte linksrechts alle bekannten. beide eltern starben kurz hintereinander an krebs: brust die mutter/magen der vater, und 1 leben lang sorgte meine mutter sich, es würde ihr ebenso ergehen.

manchmal stelle ich sie mir vor, wie sie als teenager zur höheren schule fährt, ganz allein, mitten unterm jahr, wo man ihr rät, zum nächsten schuljahrsbeginn wiederzukommen, was sie nie tut, weil daheim aufm bauernhof wird sie gebraucht, zu viele sind schon gegangen. ich stell sie mir vor, mit anfang 20, als sie daheim die mutter pflegt + den arm ihr massiert+drainiert, weil man mit der op auch die lymphen entfernt + das wasser nun nicht mehr abläuft. ich stelle mir vor, wie sie ein paar jahre darauf meinen vater heiratet + in die wirtschaft kommt, wo der wirt = ihr ehemann abends mit den gästen spielt+zecht. wie sie, unsere mutter, geborene nutz, früh aufsteht + in den stall schreitet, um die kühe zu misten+melken, während die schramls allesamt: mein vater, die schwägerin, die schwiegermutter in den betten kullern. wie ich erst merkte, was sie da schafft, als sie im mist ausrutscht + sich den knöchel erneut bricht, über den ihr der lieblingsbruder einst mitm traktor gefahren, und wir kinder einspringen müssen, weil der vater krankkrankkrank.

wenn wir zusammen die baumstämme zersägten + die buchenscheite zu scheitERhaufen schLichteten, die später gut brannten wie mein 1. zimmer, als ich ausgezogen war nach berlin + einschlief überm kerzenschein, fühlte ich mich ihr zugehörig, obwohl ich zur falschen seite ausschlug. als ich mit hiv nach hause zurückkam, nahm sie mich nach der aussprach in die arme, bevor wir ans waschbecken traten + das geschirr spülten, den hof vom kastanienlaub leerfegten, 1 schubkarre trockenholz holten, um den kamin zu befeuern, wo noch heute im winter die würste räuchern, denen wir mit unseren händen kleine fäden wie schlingen um hälse zu kleinen köpfen binden, an denen sie dann im rauSch von den schwarzen verkohlten stöcken hängen.

wenn wir die knödel im dauerlauf drehten, formte sie mit ihren flinken händen 1 mulde so rund, dass die knödel in raschem tempo ihr nur so von der hand kullerten wie perfekte christbaumkugeln, die wir kinder im winter, so oft wir uns stritten, mit mehroderweniger großen verlusten an die zu dünnen+krummen bäumchen in der wirtsstube hingen, aus der die gäste auch an heilig abend kaum rauszubringen waren. so langsam ich bin, so aschiftig ploppt mir der schwere teig von den verklebten händen, dass es mir scheint, ich höre den verstorbenen vater im hintergrund schreien, wie immer, wenn ich den widerstand wie etwa gegens bedienen der betrunkenen spürte, der mich trotzig träge machte: herrschaft wou bleibstn? ich bin gescheit, aber ich kanns nicht gescheit. und manchmal ist es = das leben. wenn ich das teelicht anzünde vom apfelbräter, den sie mir letztes jahr zu weihnachten präsentet, obwohl ich seit dem brand keine kerzen mehr im haus außer denen, die sie mir schenkt, knisterts plötzlich wie früher daheim, wenn ich morgens vor der schule in der kalten küche den ofen angefeuert, es wird licht+warm + kurze zeit später brutzelt der apfel seiner erweichung entgegen + duftet in vorfreude voraus.

als ich der mutter in 1 nebensatz von der essstörung erzählte, die mich begleitet, seit ich als kind nachts aufstand, um, anstatt zu ihr ins warme bett zu kriechen, aus dem sie mich, den knurrenden vater beschwichtigend, indem sie mein nasses laken wechselte, endgültig verbannt, 1 familienpackung stracciatellaeis aus der immer zugänglichen, wenn auch in 1. linie den gästen vorbehaltenen, für uns gefühlt meist verbotenen eistruhe zu holen, schickte sie mir mitm nächsten carepaket zwieback+kamillentee für den empfindlichen magen, den ich von ihr geerbt. wenn ich als vegetarierin nicht wusste, was ich auf urlaub in der fleischfabrikation, die die schwester fortführt, aber meinesgleichen zuliebe mit rotebeetebratlingen bestückt, essen sollte, schlägt sie mahlzeiten aus ihrer kindheit vor: 1 apfel aufs brot/warme milch mit brot/arme ritter. mitunter mitten im winter schwärmt sie wie ausm nichts von der goldbraunen haut überm milchtopf im holzofen, die alle 8 geschwister immer gerne gehabt hätten, aber nur 1 bekam.

wenn wir mittlerweile alle einzwei wochen miteinander telefonieren, ists nie ganz klar, ob sies mir zuliebe tut, weil ich hier allein mit meinem relikt von dialekt, oder andersherum, weil sie seit der hirnblutung nicht mehr viel unter leute + wenig spricht, weil sie schwer versteht + schwer verständlich, kurz: wer mehr depressiv ohnes auszusprechen 1 ansprach notwendig hat. wir lachen zusammen so viel wies geht. vom teuren nussspezialitätenadventskalender, den sie mir dieses jahr zum 46. geburtstag geschickt, weil 1 mutter immer 1 mutter insbesondere von 1 kind, das selbst keine kinder, habe ich in 1 suchtrausch alle türen geöffnet + die besten verschlungen, ohne dass ich was davon gehabt. jetzt steht er da aufgerissen aufm fensterbrett + klagt mich an, warum ichs nicht wertschätzen kann, warum ich so wegwerferisch bin.

dabei schätze ichs wert, so sehr sogar, dass ichs elendig spüre, dass es mir brennt vor scham in der seele, dass ichs nicht aushalte, wie guts mir tut, wie sehr ichs brauche, dass ichs gleich darauf wieder abschneide/abschalte/wegwerfe. und manchmal ist es = das leben. es hört nicht auf. ich = die (sehn)süchtige muss immer noch + immer wieder lernen, dass es nicht schlimm ist, wenn man nicht kriegt, was man will. dass es gut tut, für das dankbar zu sein, was man hat. und dass man nicht scheitert, wenn man versagt/verzagt.

es hat ein paar tage der trauer gedauert, ein wenig grübeln+knirschen, 1 namenstag, 1 telefonat + 1 wintereinbruch hats gebraucht, lange fußmärsche auf glatten, gefrorenen straßen, ständig stickige verspätete bahnen + zum bersten überfüllte ersatzlinienbusse, zehnelf geschäfte, erwartung – enttäuschung – – erleichterung … nun steht 1 neuer adventskalender aufm fensterbrett, nicht derselbe, aber der gleiche, + glitzert mich aus der frischhaltenden folienverpackung verheißungsvoll an. morgen ist 1 neuer tag. 1. dezember. welt-aids-tag. morgen heute fangen wir wieder neu an.

jeden tag fängt man neu an.

jeder tag ist 1 chance.

 

Text: Katja Schraml

5 Gedanken zu „24 T – Mutmaßungen über die Freiheit des Scheiterns, Tag 2: Katja Schraml

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