achtmal fallen, neunmal aufsteh’n?
1_ So kurz vor Mitte November eine freundliche Einladung von Frau Graugans, beim diesjährigen Adventsprojekt mitzumachen: Mutmaßungen zur Freiheit des Scheiterns – oho, spannend! – und
2_ ich sage postwendend zu, wiewohl im Kalender (meinem!) die Wochen bis Weihnachten gefährlich rotgelbgrünschwarzgescheckt mit ihren Terminen prunken (also: kaum eine Schreiblücke irgendwo und die Gefahr eines Scheiterns am Projekt absolut im Bereich des Möglichen!), übergebe sodann, auf gnädige Eingebung(en) hoffend, die Schreibaufgabe meiner inneren Weisheit und arbeite mich ansonsten unverzagt durch den alltäglichen Umtriebsdschungel. In der Woche nach dem ersten Advent
3_ treten, vermutlich aus dem etymologischen Wurzelwerk des Wortes Scheitern aufsteigend, Bilder von Scheiterhaufen vor mein inneres Auge – Scheiterhaufen für all Jene, welche gesellschaftliche Normen oder religiöse Gebote missachten (oder zu missachten scheinen), Scheiterhaufen für die gescheiterten Existenzen, die abgespalten werden müssen vom guten, gesunden Holz, die brennen müssen: zur Ehre des Herrn und der Herren, zur Ehre der Macht … aber … wo bleibt da die Freiheit!? und überhaupt
4_ steh ich jetzt, hier, heute auf Kriegsfuß mit so umfassenden Zuschreibungen wie gescheiterte Existenz oder ein gescheitertes Leben. Wer hat die Deutungshoheit, ein ganzes Leben als gescheitert zu bezeichnen, wer darf sich das anmaßen, solch Urteil zu fällen? Und kann nicht etwas, das zunächst wie Scheitern aussieht, zu späterer Zeit, in der Rückschau, sogar als ein positiver biografischer Impuls begriffen werden? Wie auch immer – ein neues Bild taucht auf, begleitet mich durch die zweite Adventswoche: Ich sehe
5_ ein Kind, das laufen lernt, vielleicht elf, zwölf Monate alt. Es richtet sich aus dem Bärenstand auf, steht frei, wackelig, hält sich einige Sekunden, plumpst auf den Hintern. Wieder und wieder geschieht das, ein ständiges Scheitern, zugleich aber: ein unermüdliches Lernen. Die Intervalle des freien Stehens werden länger, die Balance wird stabiler, das Aufrichten gelingt immer besser. Parallel hat das Kind begonnen, von den Eltern gehalten oder sich an Möbeln entlanghangelnd, seine Schrittmuster zu trainieren … Scheitern hilft hier beim Lernen, aus Fehlern wird man klug, doch, ja, das gibt es. Ist da vielleicht auch ein bisschen Freiheit drin versteckt? Kann sein, jedenfalls scheint es
6_ eine Art von hilfreichem, ja notwendigem Scheitern zu geben, das letztlich zu neuen Freiheiten, neuen Möglichkeiten führt. Das gilt für das Individuum ebenso wie für das Kollektiv. Wir, die Menschen, Menschheit, wir haben uns aufgerichtet, haben gehen gelernt, Zusammenhänge entdeckt, Wissen erworben und Erfindungen gemacht, die zumindest einem Teil der heutigen Weltbevölkerung Möglichkeiten, Freiheiten, Sicherheiten, Bequemlichkeiten bescheren, die vor 100 Jahren noch unvorstellbar waren. Allerdings
7_ ist es uns, der Menschheit, bislang nicht gelungen, den Fortschritt so zu gestalten, dass alle Menschen daran teilhaben können, und die Erde, deren Ressourcen uns tragen und nähren, intakt bleibt. Im Gegenteil! Die globalen Herausforderungen, vor denen wir als Kollektiv Menschheit stehen, sind
8_ gewaltig und höchst komplex. Kann gut sein, dass wir scheitern. Kann sein, dass dann viel viel viel Zeit vergeht und irgendwann was
9_ Neues, ganz Anderes, Bess’res entsteht …
Text: Pega Mund
Liebe Pega, ein schönes Beispiel hast du ausgesucht, um Versuch, scheitern und der erneute Versuch darzustellen.
An Scheiterhaufen habe ich in dem Zusammenhang noch nie gedacht, aber ja, du hast ja Recht, auch mit den daraus resultierenden Fragen. Anmaßungen sind es ein ganzes Leben eines/einer Anderen als gescheitert zu bezeichnen, wenn mensch nichts weiß, außer der gerade eben wirkenden Momentaufnahme.
Ich wünsche dir – trotz allem – einen Wiegeschritt durch die letzte Adventwoche, leuchtende Weihenächte und ein gutes neues Jahr, herzlichst, Ulli
Woher hast Du den Begriff Wiegeschritt , Ulli?! Er taucht bei Dir öfters auf 🙂
danke dir, liebste ulli – für den wiegeschritt, die leuchtnächte, das gutjahr … und wünsche dir ebenso bestes, lichte tage, leichte und kleine freuden jeden tag und große freuden dazugarniert … sei herzlich umarmt aus der ferne: pega
Das finde ich jetzt fast unheimlich, denn genau diese Assoziationen habe ich auch immer wenn ich an Scheitern denke, wenn ich das Wort lese oder höre. Diese Scheiterhaufen und all das, was mit ihnen gemeint ist.
Und auch das Bild des laufen lernenden Kindes hatte ich im ersten Textentwurf.
Aber am schönsten an deinem Text war für mich die Formulierung die Schreibaufgabe deiner „inneren Weisheit“ zu übergeben. Das nehme ich mit als Impuls und vielleicht sogar als Vorsatz für das neue Jahr, den ich in den restlichen Tagen des alten Jahres schon einmal üben darf. Danke an dich für den schönen Text und immer wieder an Frau Graugans für dieses schöne alljährliche Projekt.
liebe mützenfalterin, hab vielen dank für dein feedback. es freut mich, von deinen assoziationen zu erfahren – und die „innere weisheit“ … ja, da ist absolut kein hochmut, keine anmaßung im spiel, das ist etwas ganz schlichtes und zugleich etwas ganz komplexes – danke, dass du gerade auch diese stelle aufgenommen hast.
eine gute zeit wünsche ich dir, entspannte, freundliche tage im schwindenden jahr und einen geschmeidigen rutsch ins neue …
herzliche grüße: pega
wunderbar. und auch mir kommt beim thema der scheiterhaufen in den sinn! so wie dieses: gescheit/ gescheiter/ gescheitert. scheitern ist nötig, kann wunderbar sein, aber auch schrecklich. liebe grüße von diana
Habe nach Scheiterhaufen gegoogelt, betreffs dessen Etymologie. Die ersten Bilder, die mir ins Auge sprangen, handelten von „Omas Rezepten für Scheiterhaufen“ und ich sank etwas benommen zurück ins Lesecouchkissen. Außerhalb von „Scheit, Scheiten“ habe ich den Haufen nie begriffen. Obwohl deine Assoziation doch so sehr auf der Hand liegt, liebe Pega. Das Rezept des menschlichen Teufels ist bis heute das Verbrennen der Weltlichkeit und im Gefolge das Scheitern der Mitmenschlichkeit.
lieber Achim, „Omas Rezepte für Scheiterhaufen“, danke dir für diese köstlichkeit – da öffnet sich schillernd der fächer des absurden … oder des abstrusen …? man sollte beginnen, mehr auf die doppel- und hintersinnigkeiten von kochrezepten zu achten …
aber im etymologischen wörterbuch habe ich einen hinweis gefunden, i hoffe, der link funktioniert:
https://www.dwds.de/wb/etymwb/Scheiterhaufen
möglichst entspannte vorweihnachtstage wünsch ich dir und grüße herzlichst: pega
Ja, das habe ich gesehen. Auch dir ein frohes Weihnachtsfest 😊
👍🎀🌲