24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 5 #Ulli Gau

Gerne habe ich die Einladung zu diesem Projekt angenommen, doch kaum war mein „Ja“ abgeschickt, grübelte ich auch schon, was denn nun das Deutschsein sei. Wie gut, dass ich mutmaßen darf!

In der Zeitung stand unter der Überschrift >Nun erst recht!<, dass ein Deutscher, der sagt, er sei stolz, dass er ein Deutscher sei, denn wenn er nicht stolz wäre, würde er ja trotzdem auch nur ein Deutscher sein, also sei er natürlich stolz, dass er ein Deutscher wäre – >ein solcher Deutscher<, stand in der Zeitung, >ist kein Deutscher, sondern ein Asphaltdeutscher<.“

Zitat aus dem Buch „Der ewige Spießer“ von Ödön von Horváth 1929

Denke ich ans Deutschsein fallen mir erst einmal viele kleine Länder in einem großen ein, denke ich an verschiedene Völker in ihren Landesgrenzen, höre ihre Dialekte, denke an verschiedene Traditionen und Brauchtümer. Die allemannische Fasnacht ist kein rheinischer Karneval, zum Beispiel, beide vereint lediglich der Rosenmontag und der Aschermittwoch, mehr nicht.

Bayern wahrt seine Abgrenzung gegenüber dem Frankenland und umgekehrt, Badenser und Schwaben machen es ihnen gleich und was hat eine Saarländerin mit einer Sächsin gemein? Ja, alle sprechen Deutsch, das tun aber auch die Österreicher*innen und die Schweizer*innen. Immerhin, eine Grundsprache, aber versteht man sich deswegen auch? Herrschen Offenheit, Neugierde, leben und leben lassen in diesem kleinem Land? In mir leuchtet das Wort ABGRENZUNG in großen Lettern auf.

Wir sind viele, weil viele polnische Vorfahren haben oder französische, englische, italienische, russische, griechische, türkische, niederländische und … Es ist ein Wandern in der Welt. Schon lange, schon immer. Was eint ein Volk? Was macht ein Volk zu einem Volk?

Man sagt Deutschsein sei Sauerkraut und Eisbein, dünner Kaffee und keine Teekultur, sei Oktoberfest und Reisevolk, sei Reinlichkeit, Genauigkeit bis hin zur Pingeligkeit, sei fleißig, pünktlich und strebsam, seien Vorschriften über Vorschriften, seien Handwerkerinnungen, sei Engstirnigkeit, Hitlerzeit und Kultur. Kultur wie Hegel, Nietzsche, Beethoven, Bach, Schumann, Goethe, Schiller, Rilke, Brecht, Einstein, Freud und …

Lenin soll gesagt haben:“Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich vorher noch eine Bahnsteigkarte.“

Nationen drücken sich gegenseitig Stempel auf, Wahrheiten sind komplexer.

Preußische Pünktlichkeit, deutsche Eiche, deutsche Wertarbeit, Gartenzwerge, Disziplin, herrische Töne, Weltmenschgehabe, Arroganz bis zur Respektlosigkeit, auch das sei Deutschsein, sagt man. Man spricht aber auch von weltoffenen, freundlichen, genauen, zugewandten, toleranten, großzügigen, innovativen Deutschen – in neuerer Zeit.

Brauchtümer und Traditionen zu pflegen ist eins, das andere ist die Vielschichtigkeit. Es ist keine Seltenheit, dass ein Schwabe die Rheinländerin nicht versteht und umgekehrt. Man nennt das Mentalitäten. Bei all diesem Babylon in der Welt, und auch in Deutschland, entzieht sich mir eine Aussage über das Deutschsein. Ich schaue auf´s Menschsein.

Mercedes, BMW, VW, Bayer und … machten Deutschland zu einem reichen Land. In den letzten Jahrzehnten wächst die Armut. Nationalismus und Rechtsradikalismus sind wieder erwacht, man grübelt, man schämt sich, man fragt sich. Stolpersteine liegen fest verankert auf deutschem Asphalt.

Denke ich an Deutschland, denke ich an ein landschaftlich schönes, vielseitiges und an ein kleines Land. Und jedes Land im Land braut sein eigenes Bier und manche machen phantastischen Wein.

Ich bin hier geboren, ich kenne mich hier aus und mir ist Deutschland, wie es Peter Georges Frey so treffend formulierte, nur vertrauter als der Rest der Welt. (https://literaturfrey.com/2018/11/11/gedanken-ueber-deutschland-6/)

Was nun aber das Deutschsein wirklich ist, bleibt auch am Ende meiner Mutmaßungen offen, wahrscheinlich ein bunt gemischter Korb mit verschiedenfarbigen Kohlköpfen, Bier, Espresso, Wein, Kartoffeln, Spaghetti, Äpfeln, Gartenzwergen und … im Dirndl, mit Schwarzwaldhut auf dem Kopf und Birkenstocks an den Füßen serviert.

Text: Ulli  Gau
Blog: Café Weltenall

12 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 5 #Ulli Gau

  1. Ja, die Vielfalt -so wie Du sie eindrucksvoll beschrieben hast – ist da, auch der Stolz über das was wir alles als Nation erreicht haben, auch wenn bei Vielem der Krieg der Vater der Dinge war. Was uns aber auch charakterisiert ist unsere Einstellung, dass wir die ALLERBESTEN sind, wir das Volk der Dichter und Denker und Erfinder sind. Diese Überheblichkeit habe ich oft gespürt, wenn ich in früheren Jahren von Geschäftsreisen aus Afrika oder Südamerika zurück kam. Warst du wieder in diesen Bananenländern, hieß es dann. Keiner von den Fragern war sich allerdings bewusst, dass es bei uns genauso Korruption und Seilschaften gab (und immer noch gibt), nur wurde das bei uns geschickt unter der Decke gehalten und in unserem unerschütterlichen deutschen Glauben negiert: aber bei UNS doch nicht!
    Die großen Wirtschaftsverbrechen in den 90er Jahren (Horst-Dieter Esch, Jürgen Schneider, Flowtex, ….) haben uns dann eines Besseren belehrt.
    Übertriebener Stolz auf der einen Seite, aber unvergleichliche Flexibilität und Anpassungsfähigkeit beim Umgang mit anderen Nationen/Partnern und unerreichte Ingenieurskunst: das hat uns über viele Jahrzehnte/Jahrhunderte zu dem größten Exporteur gemacht. Meine Erfahrung ist: in keinem anderen Land der Welt sprechen so viele Menschen so viele Sprachen, wie in Deutschland und die Deutschen. Das sind unsere Stärken: Weltoffenheit, Selbstsicherheit, Stolz, Können.

    1. Danke Werner, „wir sind die Allerbesten“, kenne ich auch gut, Weltherrengehabe nenne ich das, aber es hat in den letzten Jahrzehnten einen Knick bekommen und das ist gut so.
      Ob nun Stolz eine Stärke ist, darüber muss ich noch nachdenken, Weltoffenheit auf alle Fälle!
      herzliche Grüße
      Ulli

  2. Danke schön! Ich finde diese Mutmaßungen über Deutschland, die durch Frau Helminger angeregt in den Texten und Kommentaren zu lesen sind, sehr interessant und aufschlussreich. Ich werde, wenn diese 24 Tage vorbei sind, sicher nicht besser als vorher wissen,was Deutschsein bedeutet, wohl aber, welche Schwerpunkte gesetzt werden. Du, Ulli, setzt ihn bei der Vielfalt,und das ist immerhin ein tröstlicher Gesichtspunkt: dass alle Versuche der Gleichschaltung seit der preußigen Reichsgründung, mit Höhepunkt während des 3. Reiches, aber dann auch wieder in der DDR, wohl doch nicht so tief gegangen sind, wie es manchmal den Anschein haben mag. Möge diese Vielfalt und der Respekt vor den unterschiedlichsten Ausdrucksformen nicht nur in den Mundarten und Festen, sondern auch in den Denkweisen erhalten bleiben.

    1. Deinen Wünschen schließe ich mich gerne an, Gerda. Gestern lauschte ich einer Sendung im Radio, in der es darum ging, ob unser Alltag aggressiver geworden wäre, dabei kam u.a. heraus, dass sich die meisten Deutschen ein friedliches Miteinander wünschen, nicht nur untereinander, sondern auch mit den Migrant*innen.
      herzlichst, Ulli

  3. Liebe Ulli, dein Text sagt alles über die Deutschen aus, und doch wieder nicht. Es ist schwer uns zu fassen, aber wahrscheinlich geht es anderen Ländern ähnlich oder können die Menschen dort ihr Land und Sein besser beschreiben, als du es hier getan hast? Ich jedenfalls freue mich sehr über diese Aktion und vielleicht erfahre ich so etwas mehr über mein Deutschsein.

    1. Lieber Arno, das ist auch meine Frage, wie es anderen Menschen aus anderen Ländern mit solch einer Frage gehen würde. Gerda hat es zumindest aus ihrer Sicht mit Blick auf die Griech*innen beschrieben. Mich holte bei dieser Frage auch wieder die unsägliche Geschichte ein und glaube, dass es u.a. deswegen so schwer ist eine rundum befriedigende Antwort zu geben.
      Ich bin gespannt was noch an weiteren Mutmaßungen dazu kommt – es ist und bleibt spannend.
      herzliche Grüße, Ulli

  4. Ich habe das Projekt nicht vollständig verfolgt, dachte aber sofort an Thea Dorn und ihr Buch „deutsch, nicht dumpf“. Ich habe begonnen, es zu hören aber bin noch nicht sehr weit.

    1. Ja Priska, ich kann den Kern nicht fassen, weil es ihn für mich tatsächlich nicht gibt, ganz anders ist es, wenn ich über das Menschsein nachdenke, dann finde ich Kerne – einen Kern, den die Menschen untereinander verbindet, beim Deutschsein ist es einzig die Sprache, aber dazu habe ich mich ja ausgelassen ;o)
      Hab Dank
      herzliche Grüße
      Ulli

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