24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 4 #Gerda Kazakou

Hat das Deutschsein etwas, was andere Nationen nicht haben, oder ist „Deutschsein“, „deutsche Identität“ eine Chimäre? Offenbar hat Deutschland eine Geschichte, die diese Frage hervortreibt. In anderen Ländern stellt sich die Frage tatsächlich nicht auf die gleiche Weise. Für die Griechen, die ich fragte, war „Griechischsein“ eben: Griechin oder Griechin sein. Von den Ereignissen, Leiden und Erfolgen, die das Land betreffen, fühlen sie sich „synkinimenoi“ – das heißt wörtlich: mit-bewegt. Syn-Kinese ist übersetzbar als Mit-Bewegung, Emotion, Rührung, Regung, Anteilnahme, Ergriffenheit, Erschütterung, Erregung, Bewegtheit, Betroffenheit, tiefbewegt, feuchte Augen, leuchtende Augen, Trauer, Zorn, Mitgefühl. Kurz, was mit ihrem Land geschieht, „berührt sie“ und „bewegt sie mit“. Das ist normal, gesund, nicht immer erfreulich, aber nicht wirklich hinterfragt. Weil man Grieche, Griechin ist, ist man Teil der Bewegung des Landes in der Geschichte der Menschheit. So ist das eben.

In Deutschland aber ist es anders. Denn es gab eine Zeit, in der die Chimäre der „Blutsgemeinschaft des Deutschen Volkes“ zur schrecklichen Wirklichkeit wurde. Da wurde nicht nur gedacht und verkündet, was es bedeute, deutsch zu sein, sondern mit grausamsten Mitteln alles „Undeutsche“ ausgemerzt und ein Kern des „Deutschseins“ herausgehämmert – ja, solche Ausdrücke benutzten sie – , der als eiserne Macht über Europa kam und es zertrampelte.  

Ich glaube nicht, dass es jemals zuvor ein Volk gab, das sich selbst so schrecklich zugerichtet hat. Immer haben die Völker voneinander gelernt, haben miteinander verkehrt, sich vermischt, haben Fremdes aufgenommen und von Erfahrungen anderer profitiert. Kultur entstand durch dieses Hin und Her. So auch war die deutsche Kultur:  reich ihr Geistes- und Kunstleben durch das Eigene und durch das Hinzugekommene, das Griechische und Lateinische, Französische, Russische, Indische, Chinesische, das Arabische, Jüdische, Keltische…. Ein feines Gewebe war es, mit allerlei Figuren und Farben, durchaus schön anzusehen und voller Wunder.

Aber es kamen die an die Macht, die zu wissen vorgaben, was das Deutsche sei, und was das Deutschsein bedeute. Sie zerrissen das feine Gewebe, schnitten heraus, warfen weg. Setzten neu zusammen, tauchten das Tuch in schwarze Galle und bitteren Essig und sagten zu ihren Landsleuten: Trinkt! Daran sollt ihr genesen. Und den Völkern Europas hielten sie dieses zerlöcherte, in Galle getauchte Tuch hin und schrien. Trinkt: Am deutschen Wesen sollt ihr genesen.  

Und als das Ende dieser Zeit kam, war das Deutsche nurmehr ein Lumpen, und Deutschsein bedeutete, Verbrechen ungeahnten Ausmaßes begangen zu haben. Überall in Europa zeugten unglaubliche Verwüstungen der Seelen und der Länder von dem, was unter der Fahne des „Deutschseins“ angerichtet wurde.

Danach? Die einzige Rettung schien zu sein, das geächtete, verfemte „Undeutsche“ aufzurufen, erneut Brücken zur Menschheit zu bauen. Das Amerikanische wurde zur herrschenden Kultur, die West-Einbindung zur Sicherheits-Garantie. So ist es bis heute geblieben. Heute sieht so mancher die Rettung des Deutschen vor sich selbst in der Zuwanderung, im Multi-Kulti, im Aufgehen in einer Welt ohne Grenzen. Doch geht das? Ist das nicht eine neue Chimäre? Gälte es nicht vielmehr anzuknüpfen an ein tieferes Erbe, das abendländische, das alles, vom Russischen bis zum Irischen, vom Skandinavischen bis zum Griechischen freundlich verbindet? Stattdessen: Mit seinem zerrütteten Selbstbewusstsein kujoniert das „Deutsche“ heute die wirtschaftlich schwächeren Nachbarn und rüstet erneut gegen Russland, stellt sich zugleich als weltoffen dar und für interventionistische Kriege bereit, weil seine Wirtschaft und seine Verbündeten es verlangen.

 „Deutschsein“ ist ein höchst zusammengesetztes Thema, und ein wichtiger Aspekt für mich, die ich in Griechenland lebe, ist eben auch, wie ahnungslos die meisten Deutschen sind, was in ihrem Namen und durch Ihresgleichen in Griechenland angerichtet wurde und leider auch wieder wird. Wenn es darum geht zu wissen, wie ich denke, dann sind meine Blog-Beiträge schon auch eine gute Quelle, insbesondere „Danke Deutschland“ (über den  Unwillen Deutschlands, für das Martyrium Griechenland während der deutschen Besatzung zu bezahlen), und „Schluss mit dem Leichtsinn“ (über das Spardiktat des schwäbischen Schneiders, Schäuble), „Erinnerung an einen Krieg“ (über die Haltung der roten-grünen Regierung Schröder-Fischer zum Jugoslawienkrieg), und „Wo ein Wille, ist auch ein Weg“ (über die zu Belehrungen neigende deutsche Regierung gegenüber Menschen, die nicht aus noch ein wissen).

Ist das nun besonders „deutsch“, diese Neigung zum Geiz, zur Verdrängung, zur Besserwisserei und zum Belehren, zum Buckeln vor Stärkeren und zur Arroganz gegenüber den Schwachen? Ich weiß es nicht. Mir geht es nicht darum, Gerechtigkeit widerfahren  zu lassen, sondern um den Resonanzkörper, der mich einschließt und durch den ich die Welt erfahre. Und der ist deutsch. Es gibt da schreckliche Töne, lautes Geschrei von Mördern und Wehklagen von Gemordeten, die die wunderbaren feinen Töne oft überlagern. Manchmal höre ich dieses Hintergrundgeräusch lauter, manchmal leiser. Wenn im Namen des „deutschen Volkes“ Dinge getan werden, die mir unerträglich sind, weine ich. Und mit „unerträglich“ meine ich gar nicht mal die am rechten Rand sich erneut etablierenden Kräfte, nein, sondern den „Mainstream“, zum Beispiel die Bombardierung Jugoslawiens (das dritte Mal in einem Jahrhundert!), um “ein neues Auschwitz zu verhindern“ und endlich ein „normaler Staat“ zu werden.  Oder die Ermahnung an Griechenland,  „mach deine Hausaufgaben“ und „pacta sunt servanda“ (Verträge müssen eingehalten werden), auch wenn ihr drüber krepiert! Aber über Zwangsanleihen, Arbeitssklaven, Erschießungen, Verheerungen durch die deutsche Besetzung des neutralen Griechenland reden wir nicht ….Also nein, ich kann jetzt nicht alles aufzählen, was mich mit meinem Deutsc. ….

Als ich hier angelangt war, klingelte es an der Haustür. Eine weißhaarige Nachbarin, sie braucht Hilfe mit einem amtlichen Schreiben aus Deutschland. Es geht um die Krankenversicherung bei der AOK, denn sie hat früher in Deutschland gearbeitet. Das sind so Momente, wo ich über mein Deutschsein froh bin. Ich kann helfen und ich bin zuversichtlich, dass die deutschen Behörden funktionieren. Ich  hoffe, sie werden ihrem Ruf gerecht. …

 

Text: Gerda Kazakou
Blog: Gerda Kazakou

12 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 4 #Gerda Kazakou

  1. Wow! Toller Abriss der letzten hundert Jahre.

    Scheint so, als ob „draußen sein“ (Griechenland/du) oder „halbdraußen sein“(Ostdeutschland/ich) den Blick schärft.

    http://www.youtube.com/watch?v=jMIOGdb3sWA

    An uns Deutschen klebt etwas Primushaftes: Der krankhafte Wahn, immer perfekt sein zu müssen. So wurden unsere Glanzleistungen groß, aber auch unsere Verbrechen.

  2. Aus meiner Sicht hast du einen tiefen Blick ins Deutschsein geworfen, mir gefiel sehr all das Feine, das immer dann auftrat, wenn es um die Kultur, die Kunst ging. Und genau die ist es, die auch heute verbindet und neue Verbindugen schafft – Kultur und Wirtschaft, beide sprechen auch von Haltungen, sind aber wie mir scheint, sehr weit voneinander entfernt.
    Herzlichen Dank und liebe Grüße, Ulli

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