24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 2 #Stefan Heyer

Olsztyn: Agnieszka

Einmal im Monat fuhr sie mit dem Fernbus nach Olsztyn. Ihre Eltern lebten noch dort. Meistens fuhr sie um 18.45 Uhr ab München. Es gab auch andere Verbindungen. Doch dann müsste sie umsteigen. Mit etwas Glück war sie um 14.20 dann in Olsztyn. Gerädert. Doch die Busfahrt war günstig. Ein Flug ging zwar schneller. Doch dann müsste sie ab Warschau schauen, wie sie weiterkommt. Wenn sie heim fuhr, hatte sie nicht viel Gepäck dabei. Sie arbeitete im Krankenhaus. Verdiente nicht schlecht. Mehr als in Polen. Hatte Deutsch gerne gelernt. Wollte raus.
Früher war Olsztyn Ostpreußen gewesen, hatte zu Deutschland gehört. Deutsche gab es fast keine mehr in Olsztyn. Während und nach dem Krieg waren sie geflohen. Agnieszka hatte nichts gegen die Deutschen. Hatte gerne ihre Sprache gelernt. Ihre Eltern hatten es nicht so gern gehabt, dass sie Deutsch lernte. Sie hätte daheim bleiben sollen. In Masuren war außer im Sommer wenig los. Im Sommer kamen viele Touristen. Die Seen waren wunderschön. Im Winter lag viel Nebel und Schnee. Da kamen keine Touristen. In Olsztyn gibt es jetzt sogar einen Flughafen. Nur selten billige Tickets. Der Flughafen war nicht neu. Alter Militärflughafen. Agnieszka mochte ihn nicht. Der CIA hatte ihn wohl öfter mal benutzt für besondere Missionen. Flüge aus Afghanistan waren dort gelandet. Agnieszka mochte den Winter in Masuren nicht. Selten war Sonne zu sehen. Kälte kroch in die Glieder. Wodka trank sie nicht. Ihre Generation trank kaum Wodka. Wodka tranken die Alten. Die Jungen hatten Ziele. Wollten Geld verdienen. In England. In Deutschland. Schöne Klamotten tragen. Schöne Autos fahren. Urlaub in Italien machen.
Den Sozialismus hatte sie nicht kennengelernt. Sie war zu jung dafür. Wollte davon auch nichts wissen. Vom 2. Weltkrieg wollte sie auch nichts wissen. Früher hatte es in Olsztyn viele Juden gegeben. Um die 500 müssen es gewesen sein, bevor die Nazis kamen. Für die Juden hatte sie sich immer interessiert. Früher gab es eine Synagoge. Zerstört. Vom jüdischen Friedhof ist kaum noch was zu erkennen. Ist aber nicht zerstört worden. Agnieszka geht gerne dort spazieren. Geblieben ist das Leichenhaus.
Wenn Agnieszka heim kommt, gibt es immer Piroggen. Oder Fisch. Wenn Vater einen gefangen hatte. Fisch gab es dauernd. Den vermisste sie in München am meisten. Der war ihr in der großen Stadt viel zu teuer. Und oft nicht frisch genug. Zander. Barsch. Hecht. Sie war nicht wählerisch. Nur frisch musste er sein.

 

Text: Stefan Heyer
Blog: ORANGEBLAU

11 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 2 #Stefan Heyer

  1. Mir gefallen deine „lapidaren“ Erzählungen. Nur handelt es sich hier wohl eher um Mutmaßungen über das Polnischsein, oder? ich kenne einige Polinnen hier in Griechenland, auf eine passt die Erzählung ganz gut. Zwölf Kinder und ein streng katholischer Vater, kleine Landwirtschaft. Alle Kinder sind ausgewandert, um rauszukommen aus Polen, weg vom autoritären Vater und mehr zu verdienen. Nur einer kehrte zu seinen Eltern zurück, schwer depressiv und nun ein Pflegefall. Meine Bekannte ist Krankenschwester, sie verdient jetzt ihr Geld, indem sie sterbende Menschen zu Hause betreut. Es ist ein sehr schweres Leben. sie hat beide Brüste wegen Krebs wegoperiert. Das Leben sei ihr egal. Sie hat eine Tochter, 17, die will von ihrer Mutter nichts wissen. So zerbrechen Familien.

    1. Ich hab Dir zu danken, lieber Stefan, für diesen wundervollen Text … oft, öfter als ich für möglich hielt, hatte ich schon das Gefühl, in so einem Fernbus daheim zu sein … im Gepäck dabei wie früher, die über alles geliebten dickbeschmierten Mettwurstbrote von meinem Vater. Deine Worte gehen mir ganz schön unter die Haut, ich fühle mich der Agnieszka nahe, als würde ich neben ihr im Bus sitzen!

  2. Auch hier gibt es viele Polinnen, die die häusliche Krankenpflege übernehmen, mit mehr oder weniger guten Sprachkenntnissen. Meine Großmütter und einer meiner Großväter sind in den frühen 1900er Jahren von Polen nach Deutschland emigriert, sie siedelten sich, wie viele andere polnische Menschen auch, im Ruhrgebiet an, hier liegt also die Wurzel für die polnisch-deutsche Verbindung, die für mich somit auch in die Mutmaßungen übers Deutschsein gehört.
    herzliche Grüße
    Ulli

    1. Mir ist bekannt, dass im Ruhrgebiet viele Menschen polnische Wurzeln haben. Die Einwanderung fand aber vor allem um die Jahrhundertwende des 19. aufs 20. Jahrhundert statt, als Arbeiter für die Kohlegruben und Stahlwerke gebraucht wurden. Waren deine Großmütter Polinnen und der Großvater Pole, oder waren es Deutsche, die aus dem polnischen ins deutsche Siedlungsgebiet umsiedelten?

      1. Meine Großmutter mütterlicherseits war Polin mit russischen Wurzeln, der Großvater mütterlicherseits muss Deutscher gewesen sein, der übersiedelte, die Großmutter väterlicherseits war wieder Polin – und ja, das war auch die Zeit als sie alle übersiedelten, ca. 1913-15

        1. Da bist du mir ein Stück voraus. Die Vorfahren meiner Oma väterlicherseits stammt auch irgendwie aus Russland, wurde in Frankfurt/Oder geboren. Der Opa wurde auf Wollin geboren, das heute polnisch ist. Sind aber beide Deutsche. – ich habe früher, als ich noch versuchte, eine Alternative Heimat anzugeben, weil mir Deutschland nicht passte, oft behauptet, aus Polen oder Russland zu stammen.

          1. Ich muss gerade lächeln, da ich bis heute gerne betone, dass meine Wurzeln in Polen und Russland liegen – und der Großvater väterlicherseits kam ja aus Pommern, der hatte noch die Ostsee in den Augen.

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