24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 19 #Michael Helminger (Teil2)

Meine Mutmaßungen:

Klar ist, ich bin Deutscher. Meine Familie war und ist deutsch. Damit trage ich all die »deutschen Prägungen« in mir. Natürlich verschlüsselt. Verwoben mit meinen persönlichen Prägungen. Aber dennoch da.

Natürlich möchte ich mit großen Teilen der deutschen Geschichte nichts zu tun haben. Aber als Deutscher trage ich Urheberschaft ebendieser Geschichte in mir. Sicher nicht direkt. Aber indirekt. Ich trage nicht schwer, aber ich trage. Meine Existenz heute fußt auf den Urhebern damals. Und Urheberschaft ist nicht übertragbar, auch nicht ablegbar. Das gilt für den malenden Künstler ebenso. Er kann sein Werk vernichten, verschenken, verkaufen. Urheber bleibt er aber trotzdem. Nur die Personen, die das Werk an die Wand hängen, ändern sich.

Deutschsein. Was über all die Generationen hindurchwirkt, vermag ich nicht zweifelsfrei zu benennen oder auseinanderzudividieren. Ich weiß nur eines: Wäre ich in Italien zur Welt gekommen, mit italienischen Eltern und italienischen Großeltern, in einer mediterranen Landschaft. Ich wäre heute jemand anderes. Was aber anders wäre, kann ich wiederum nicht mit Exaktheit benennen.

Halbleer anstelle halbvoll. Zwei Grundgefühle. Eines ist für mich deutsch und eines nichtdeutsch. Minderwertigkeit, fehlende Authentizität, Unreife schwingt mit. Gibt den Ausschlag. Wahrscheinlich auch bei mir. Ebenso in der Biografie eines Adolf Hitler. »Leer« beinhaltet ironischerweise Potenzial. Zum »mehr« werden, zum »besser« werden. Zur bedingungslosen Höchstleistung. Dennoch ist Halbleer vorweggenommene Niederlage.

Die Angst vor dem Untergang. Vor Verlust. Zwei Pole, die, wenn sie zueinander finden, frei jeglicher Moral Grenzziehungen niederreißen. Ich weiß heute: meine (deutsche) Erziehung war eine Erziehung immer hin zum Halbleer-Sein, niemals zum Halbvoll-Sein. So bin ich wohl auch in dieser Hinsicht Deutscher.

Uneindeutigkeit. Gegenteil von Stringenz. Ein klarer, übergeordneter Zielfokus fehlt auch mir. Auf dem Weg Irgendwohin gibt es immer Umwege. In Teilstrecken bin ich als Deutscher zu ungeheurer Systematik fähig. Als Deutscher trage ich beide Seelen in mir. Die Seele des Disziplinierten. Die Seele des Leistungswilligen. Das sind die Aspekte mit denen wir Deutschen assoziiert werden. Auf der anderen Seite steht die Seele desjenigen, der vergessen hat, wo er eigentlich hinwill, weil Vorbilder nie wirklich da waren. Das ist das, was die Deutschen auf meisterliche Weise zu verbergen gelernt haben.

Des kleinen Jungen, losgelassen in die Welt der Großen. Vielleicht, weil fehlende Vorbilder das Karma der deutschen Geschichte darstellen? Mein eigener Vater eignete sich nicht wirklich als Vorbild. Die Figuren des 3. Reiches dürfen keine Vorbildfunktion haben. Aus früher Geschichte hat sich keine schillernde Figur erhalten. Das ist für mich die wichtigste Mutmaßung in meinem Deutschsein.

Deutsche Reflexion. Ja, ich glaube Uneindeutigkeit und die deutsche Variante von Minderwertigkeit haben etwas hervorgebracht. Widersprüchlichkeiten zum Ausgleich bringen zu wollen. Durch Für und Wider. Durch Madigmachen. Durch Provozieren. Durch Gegenrede. Durch Illoyalität. Durch Verweigerung. Selbst durch das gelebte Empfinden der Nicht-Zugehörigkeit. Durch sich selbst Zerfleischen. Eine Bedrohung für alle Rechten und wie ich heute gelesen habe »Rechtsintellktuellen«.  All das führt letztendlich zu einer dialektiktischen Betrachtungsweise – und, das ist mein fester Glaube: Zu einer lebenswerteren Gesellschaft, die nicht Widersprüche einebnet, sonder ausfechtet.

Und all das sind auch … deutsche Tugenden!

Text: Herr Graugans / Michael Helminger
Blog: Erkundungen in der Ungleichzeitigkeit

7 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 19 #Michael Helminger (Teil2)

  1. Hm. Den 1. Teil fand ich besser.

    Die deutsche Reflexion ist eine verkorxte. Denn inflationärer moralischer Essayismus ersetzt die Bibelsprüche von einst, und hinter seiner Fassade laufen die gleichen/ähnliche skrupellose Geschäftsabläufe wie eh und je, ohne dass sich die Moralisten zu irgendeiner wirklich weltverbessernden Aktion entscheiden. So wie einst die Feldprediger die Kanonen segneten, aber selber nicht mitschossen, fressen all die Menschenrechtler und nachträglichen Widerstandskämpfer gegen Hitler heute die 3. Welt kahl, aber sie passen dabei auf, dass niemand „Neger“ sagt! (Und spenden zu Weihnachten.)
    „Revolution erstickt im Salon“ (F.O.X./Westberlin 1982) Die Grünen haben es erlebt. Seit sie nicht mehr revolutionär sind, sind sie wählbar für „neue Mehrheiten“.

  2. Halt, halt, ich rede hier von etwas anderem:

    Von meinen persönlichen Widersprüchen im Deutschsein und dem Umgang damit. Deswegen hatte ich auch betont, ich könne nicht über das Deutschsein mutmaßen, sondern nur im Deutschsein.

    Und genau darin möchte ich mich auch unterscheiden. Denn Abhandlungen über alles mögliche bringen mir keinen wirklichen Erkenntnisgewinn; ich kann und will auch nicht mithalten.

    Was mich interessiert, ist die persönliche Betroffenheit. Auch von Ihnen, Herr Bludgeon! Schade, dass Sie mit dem Wort »ich« so sparsam umgehen. Ich erahne zwar wo zwischen Ihren Zeilen Ihr »ich« sich bewegt, sich wehren muss, Parole bietet. Leider ist’s aber nicht niedergeschrieben. So bleibt alles nur Vermutung. Wenn’s da wäre, wär’s auf jeden Fall knackiger.

    Mir auf jeden Fall hat meine eigene (deutsche) Geschichte einen Werkzeugkasten mitgegeben. Natürlich kann ich auch zu einem Rundschlag ausholen über die Verderbtheit der Welt an sich. Ich weiß durchaus, das kann Spaß machen. Das ist manchmal wie ein Revolver, der selbstständig losgeht. Aber wem sage ich das – Sie kommen ja selbst aus dem wilden Westen! Ich jedenfalls begnüge mich mit dem Gedanken, wie Deutschsein mich selbst geprägt hat.

    Alles weitere in einer neuen Runde?

  3. Was für ein Finale!!! Ich kann jedes Wort unterschreiben und bewundere das Zusammenfassende, auf den Punktbringende – es ist deine Sprache (ich darf dich DU nennen? auch wenn ich dich nicht kenne?!), die unverblümt und wertfrei benennt was Deutschsein heißt. Ja, für mich und wohleben für dich und wie ich hier lese auch für andere. Der Spagat von Geschichte, Liebe zum Land und seinen Eigenheiten und allem Verschämten und allem Mutigem.
    Ich danke von Herzen für deine Beiträge.
    Herzliche Grüße
    Ulli

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