24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 12 #Silvia Springer

Ob ich Mutmaßungen über das Deutschsein anstellen wolle, wurde ich ganz unverhofft von der lieben Graugans gefragt. Als Österreicherin übers Deutschsein schreiben?
Hitler verbindet unsere Nationen, gewissermaßen. Aber auch Rilke, nicht wahr? Diese zwei als „Österreicher“ geborene und oftmals als „Deutsche“ bezeichnete Menschen kamen mir als erstes in den Sinn. Leider und Gottseidank. So ist das halt. Wichtig ist: was ist JETZT. Und ebenso wichtig, wenn nicht fast noch wichtiger: was kann MORGEN sein?
Als Wienerin mit slowenischen Wurzeln (und anderen, mir nicht bekannten, wohl auch deutschen) wuchs ich auf und sprach als einzige in der Familie immer Hochdeutsch, warum, weiß ich nicht. Ich las einfach gern, da waren sehr viele deutsche Klassiker und Philosophen dabei, mein Denken wurde dadurch ebenso geprägt wie durch das Lesen österreichischer Literatur. Meine Mutter war ein wenig stolz auf ihre eloquente Tochter. Wenn ich besonders emotional war, konnte ich durchaus ins Wienerische verfallen (was ich auch heute noch tue). Ich liebte es, als Kind im Berliner Dialekt zu blödeln, den ich im Fernsehen aufgeschnappt hatte, der mir ge- und leichtfiel. Heute spreche ich ein wienerisch gefärbtes Deutsch, manchmal werde ich für eine Deutsche gehalten, im Zusammensein mit Deutschen merke ich allerdings, dass ich … Wienerin „bin“. Der Sprachduktus ist ein anderer, der Tonfall, die Sprachfärbung, die Geschwindigkeit, der „Schmäh“. Den guten Beziehungen zwischen uns tut dies allerdings keinen Abbruch, die Unterschiedlichkeit wird auf beiden Seiten geschätzt. Diese gegenseitige persönliche Wertschätzung verbindet uns.
In den österreichischen Bundesländern wird der Wienerische Dialekt nicht sonderlich gemocht, obwohl es da durchaus Anhänger gibt – nichts und niemand lässt sich im Grunde pauschalieren. Andererseits gibt es großartige Wiener Mundartdichtung und Musik (alt und neu), das Wiener Deutsch ist halt ur-lässig. Ein Sing-Sang, selbst ohne Musik. Man muss sich drauf einlassen, um es lieben zu lernen (oh, ist das nicht bei allen Dingen so?), wenn man andere Vorstellungen von Schönheit, Klarheit, und Aussagekraft von Sprache, explizit von deutscher Sprache hat.
Übers Deutschsein schreiben, wenn man Probleme damit hat, „Österreicherin“ zu sein? Nicht mit dem Ort der Geburt, sondern mit den Implikationen dieses Österreichisch- oder Deutschseins, ebenso des Amerikanisch- oder Asylantseins, des Gastarbeiterseins, oder welchen expliziten Seins auch immer. Ich hatte schon immer ein Problem mit Etiketten, glaube ich.
Diese können nützlich sein, zwecks Identifizierung. Denn bei aller Einzigartigkeit bilden wir Gruppen, die dann eben auch ihre Eigenheiten entwickeln, dürfen, sollen. Es ist schön, Traditionen zu haben, ihnen bis zu einem gewissen Grad zu folgen, um ab einem anderen Grad von ihnen abzuweichen, wenn sie dem Leben nicht mehr dienen, oder vielmehr der Lebendigkeit, die das Leben mit Sinn(en) erfüllt. Deutschsein, Österreichischsein, Europäischsein, und alle anderen ethnischen, ethischen usw. Seins … all diese Konstrukte wachsen mit. Etwas Neues entsteht. Was uns verbindet, ist das Menschsein. Wir werden geboren, wachsen, leben, sterben.
Übers Deutschsein kann ich nicht viel schreiben. Ich habe über die deutsche Korrektheit, die Genauigkeit, die Strebsamkeit usw. gehört und gelesen. Bin vielen Deutschen über den Weg gelaufen, habe den Ballermann ein einziges Mal kurz gestreift, mich gleichermaßen über Schnitzelesser im Ausland geärgert, erkannt, dass es einen Riss gibt zwischen Ost und West (auch bei uns in Österreich), sah das kollektive Schuldbewusstsein der Nachkriegsgeneration(en) – bin nicht sicher, ob das in Österreich ebenso stark ausgeprägt ist – in Bezug auf den zweiten Weltkrieg ebenso wie den Versuch einer Vergangenheitsbewältigung und verfolge mit Sorge die neueren politischen Entwicklungen, ohne zu vergessen, vor der eigenen Haustüre zu kehren. Alles vor dem Hintergrund einer Kultur, die von Geistern wie Kant, Hegel, Goethe, Schiller und wie sie alle hießen geprägt wurde. Gesehen von mir als Einzelperson in einem von Geistern vieler Völker geprägten Land. Als „echte Wienerin“ (= eine Mischkulanz aus vielen Ethnien, eine „Wiener Mischung“ eben) bewege ich mich da auf unsicherem Terrain. Entdecke allerdings genau darin die Möglichkeit einer neuen Freiheit.
Was mich wirklich interessiert ist, sind vor allem das Individuum, die Individuen, die Situationen, Verhältnisse, welches, welche vor mir steht, stehen, mich umgeben, denn … oh, wie schrecklich von mir: ich bin das Zentrum meiner Welt.
Und erkenne: Ich bin schlicht und ergreifend nicht allein. Den uns umgebenden Raum, sei es nun in einem Zimmer, einer Wohnung, im Haus, im Dorf, der Stadt, dem Land, dem Kontinent, den Meeren, auf weiteren Kontinenten und dem Himmel über uns … den bewohnen wir mit anderen, wenigen und vielen, sehr, sehr vielen. Wir sind wer, wir haben Einfluss, wir verändern uns und irgendwo, irgendwo bleiben wir auch gleich. Wovor also Angst haben? Was geht denn wirklich verloren? Nichts.
Ich bin weniger besorgt um Traditionen, die scheinbar verschwinden, weil einige Gruppen kleiner und andere größer werden. Das Verschwinden der Menschlichkeit in den Menschen kümmert mich mehr. Denn nur diese lässt Vielfalt zu, Aspekte dieser Vielfalt sind das so genannte „Deutschsein“ oder „Österreichischsein“ oder … so viele unterschiedliche Seins, in einer Welt.
Es geht nicht ums Gleichmachen vieler Verschiedener, sondern darum, dass so viele verschiedene Gleiche denselben, wirklich denselben Raum bewohnen.
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Ich konnte dem Ruf der Graugans nicht widerstehen, obwohl mir schwante, dass mein Kopf rauchen würde, wenn ich mich darauf einließe. Ich tat es dennoch, denn ich spüre eine tiefe Verbundenheit (zur Welt) und Hoffnung (egal, ob ich mit meinem Text nun scheitere oder nicht), die sich gründet auf Vertrauen in die Menschlichkeit in uns allen.

Text: Silvia Springer
Blog: Die Springerin

4 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen über das Deutschsein, Tag 12 #Silvia Springer

  1. Ganz wunderbar, liebe Springerin, daß Du diese Herausforderung angenommen hast!
    Besonderen Dank für Deinen Satz, in dem es nicht ums Gleichmachen vieler Verschiedener geht, sondern daß soviele verschiedene Gleiche denselben, wirklich denselben Raum bewohnen – da haben sich Räume in Kopf und Herz geöffnet und es wird weiter in mir… und ein neues Lieblingswort hab ich auch: „Mischkulanz“ … sind wir das denn nicht alle?
    Viele liebe Grüße in die Traumstadt … bis auf bald!

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