Das Kind läuft hinaus, um zu sehen, was hinter diesem fremden Haus ist. Da gibt es diese Stiege, sie führt weit hinauf und oben geht es auf der anderen Seite gleich wieder hinunter. Schneeflocken tanzen im Schweben, das Kind tanzt mit, dreht sich und pflückt sie vom Himmel wie silberne Blumen. Es läuft durch den frischen Schnee weiter und weiter, da hängt eine Schaukel an einem Baum … weit hinauf, bis dahin, wo die Schneeflocken herkommen … der Baum schüttelt sich und das Kind wird nass und es fängt an zu frieren. Von weit her läuft es auf das fremde Haus zu und durch eine Türe hinein. Ein Gang, lang und dunkel, aus einem Türspalt fließt ein kleiner Lichtschein dem Kind vor die Füße, was ist wohl hinter der Türe? Ein leises Stimmchen ruft: komm doch … drinnen ist ein Christbaum, so groß, wie ihn das Kind noch nie gesehen hat, er ist mit Silber übergossen, das funkelt im Schein der Kerzen, aber es ist doch noch nicht Weihnachten, denkt das Kind, war denn hier schon das Christkind? Alles ist geheimnisvoll in diesem Zimmer, lange weiße Vorhänge, bis zum Boden, ein Bett irgendwo in diesem großen Raum, ein Saal in einem Märchenschloß … ein Mädchen, nur wenig älter als das Kind rutscht aus dem Bett. Es hat ein langes Nachthemd an, oder ist es ein Prinzessinnengewand, und kommt näher. Das Kind will die Hand nicht nehmen, die sich ihm entgegenstreckt, sie ist so weiß wie Porzellan, auch das Gesicht ist ganz bleich. Das Mädchen sagt etwas mit ganz leiser Stimme, es atmet schwer und seine Lippen sind so blau. Im Raum riecht es komisch, das Kind möchte verschwinden, da geht die Türe ganz auf, ein Mann kommt herein und trägt das Mädchen zum Bett, du darfst doch nicht aufstehen, dein Herz ist zu schwach. Wir warten auf die Operation sagt er. Das Kind schreit laut: Nicht einsperren, du darfst sie nicht einsperren, sonst stirbt sie! Es schreit ganz laut, aber niemand hört es, denn es sagt nichts.
Die Eltern schimpfen, wo warst du denn schon wieder, ständig bist du wie vom Erdboden verschluckt, du darfst nicht immer weglaufen.
Als ich mit dem Auto an dieser Kreuzung stehe, irgendwann kurz vor Weihnachten, da schaltet die Ampel auf grün, ich sehe die tanzenden Schneeflocken und möchte ihnen folgen, irgendwohin in die Dunkelheit, einen Umweg ins Nirgendwo. Hinter mir hupt einer, und während ich noch kurz zögere, rauscht ein großer Wagen bei rot über die Kreuzung. Ich fahre los mit Herzklopfen und weine ein wenig vor Schreck, aber dann überflutet mich diese Lust, einfach mich treiben zu lassen ohne Orientierung, bei Schneefall und Nebel mich aufzulösen im Tanz des Universums … heimliche Wege gehen, die sonst nur die Sterne kennen.
Daheim steht Kater Herbert an der Türe und möchte raus. Gehst auch strawanzen, sage ich, aber da ist er schon weg, verschwunden ums rechte Hauseck herum und von der Nacht verschluckt.
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Eine Schneeflockentraumreise….
Wie schön, das Wort „ strawanzen“ wieder zu hören, liebe Frau Graugans.Bei deiner Geschichte fallen mir einige Bilder ein: gestern,im Großstadttrubel stand ein kleiner Junge, den Mund weit geöffnet, das Gesicht nach oben gerichtet und seine Zunge fing Schneeflocken auf. Das hat mich so beglückt und an meine Kinderzeit erinnert.Auch das herzkranke Mädchen gab es, das wir in der alten Klosterschule die Treppen hinauf und hinuntergetragen haben, die oft in einer Ecke saß, wenn sie nicht mehr weitergehen konnte. Die Lippen blau und schwer atmend.
Die Operation in der großen Stadt hat sie nicht überlebt und wir haben sie im weißen Sarg ins Grab begleitet.
Du schreibst Geschichten die berühren, oft dunkel aber voller Menschlichkeit. Danke
Zwar dachte ich mir, liebe Gretl, dass strawanzen bei uns stromern heißt. Aber erstens gefällt mir strawanzen viel besser und zweitens ist es vielleicht doch ein kleines bisschen etwas anderes, etwas magischetes, ein Stromern mit Geheimnissen am Wegesrand.
Ich habe deine Mutmaßung sehr gerne gelesen und grüße mir den Kater, wenn er vom strawanzen heimkehrt.
Herzlichst, Ulli ❤️
Hach, ich glaube, nach schönen Lektüre, gehe ich jetzt auch eine Runde ‚Strawanzen‘. Danke für bereichern meines Wort-Schatzes. Herzensgrüße, Susanne