24 T. – Mutmaßungen … Tag 10: Über die Stadt

Die Stadt

Stadtkinder spielen andere Spiele

Ich bin in der Stadt aufgewachsen. Kein Hund, keine Katze, kein Huhn, kein Hahn, keine Kuh, kein Schwein.

Plattenwege und Innenhöfe, viele Kinder, großer Sandkasten, Rutsche, Klettergerüst und Schaukel. Hier spielte sich das Leben ab.

Manchmal riefen der nahe Wald, der Bahndamm, die Straßenbahnendstation, die Berge und der Kanal, die Fahrradtouren durch die Felder, hin zum nächsten Schwimmbad.

Ich hatte keine Angst. Nur wenige Autos, ein paar skurrile Typen, die jede=r kannte.

Ein Kiez ist auch nur ein Dorf.

Hier kannte Jede Jeden, Frau Milchgeschäft und ihre Tochter, den Schutzmann an der Ecke, die Eierfrau und natürlich die Uralte mit der winzigsten Eisdiele der Welt.

Überhaupt, man kannte sich, man grüßte, man kaufte bei denen, die man kannte und manchmal tratschten die Mütter auf dem Boden beim Wäscheversorgen. Man lieh sich ein Ei oder ein Tässchen Mehl, hütete gegenseitig die Kinder und ließ es gut sein.

Doch, ich hatte Angst. Im Keller wohnte der Buhmann. Im Keller waren die Kartoffeln und das Eingemachte, mein Fahrrad.

Blöde Erwachsene!

Zwanzig Jahre später, in einer anderen Stadt, einem anderen Kiez, war es auf den ersten Blick nicht viel anders. Es fühlte sich heimatlich an. Selbst die Amsel sang am Morgen und am Abend in den Höfen.

Die Welt war schneller geworden, lauter, enger, fremder, wütender. Die Häuser höher, die Autos mehr und ihre Fahrer=innen rücksichtsloser. So manches Mal fürchtete ich um meine Kinder.

Ein Buhmann wohnte nicht im Haus.

Die Metropolen der Welt wachsen in den Himmel, fressen Land.

Die Metropolen der Welt sind keine sicheren Orte mehr.

Die Metropolen der Welt verschlingen ihre Kinder.

In den Städten der Welt steht kein Stuhl mehr vor der Tür.

In die Städte der Welt kehrt keine Ruhe mehr ein.

In den Städten der Welt gibt es schon bald keinen bezahlbaren Wohnraum mehr.

Über den Metropolen der Welt leuchten keine Sterne mehr.

In den Metropolen der Welt finden sich noch Oasen.

Unter den Metropolen der Welt rattern die Bahnen.

Kunst und Kultur spielen in den Städten. Zeitgeist auch. Zu welchem Preis?

Warum denke ich die ganze Zeit, wenn ich an Stadt denke, an die Straßenkinder Brasiliens? Freiwild. Aber nicht nur in Brasilien.

Und ich denke an die nächtlichen Lager unter Brücken, in Parks, im Kaufhauseingang. Freiwild – auch sie. Und all diese Schergen, die mit eisernen Besen kehren. Nach unten treten geht immer noch ein Stückchen tiefer.

Ich denke an biergesättigte Kneipenböden in frühen Morgenstunden, an Kippen, die darin schwimmen, an Nachtschwärmer und Überbleibsel, an:

All the lonely people, where do they all come from? All the lonely people, where do they all belong?“

Text:
Ulli Gau

15 Gedanken zu „24 T. – Mutmaßungen … Tag 10: Über die Stadt

  1. Liebe Ulli, Du sprichst mir aus der Seele mit diesem starken Text! Und Dein Satz:“ die Metropolen der Welt verschlingen ihre Kinder“ versetzt mich in eine frühere Zeit, als ich in der großen Stadt lebte. Wenn ich morgens um sechs Uhr mit dem Rad zur Arbeit fuhr, kam ich an einer Kinderkrippe vorbei und sehe sie heute noch vor mir, die verschlafene Mutter, die in großer Hetze ihr weinendes Baby der Krippenangestellten in die Hände drückte … das Kind schien aus dem Bett gerissen, war vollgespuckt und das kleine Gesicht war schlafverklebt . Die Mutter hetzte sofort zu ihrem Auto, die Türen gingen zu. Ich fuhr weiter zu meiner Arbeitsstätte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dort waren alle die verlorenen Kinder untergebracht, die mit den gesellschaftlichen Normen nicht mehr zurecht kamen. Heute nennt man sie gerne „Systemsprenger“ … wir könnten, wenn wir uns trauen, durch sie unsere kranken Systeme erkennen…
    Danke Ulli, für diesen Text!

    1. „…. wir könnten, wenn wir uns trauen, durch sie unsere kranken Systeme erkennen …“, ja liebe Gretl, das könnten „wir“.
      Mir tut es immer sehr weh, wenn ich lese oder höre, dass schon Säuglinge in die Krippe müssen und frage mich dann immer, wieso diese Menschen überhaupt Kinder bekommen …
      Ich war heute in der Waldorfschule auf die meine Enkelkinder gehen. Jeden Monat gibt es dort eine Aufführung der 12 Klassen, es ist immer so berührend. Beim Abschlusslied kullerten mir ein paar Tränen: Falling in love with you – was hier für gerade Menschen heranwachsen und wie sie, ob Jungen oder Mädchen an Rhythmus, an Lieder, und Gedichten lernen, mal abgesehen von Handarbeiten, Werken, Gratenbau etc., neben allen anderen Fächern, ist einfach nur grandios.
      Nun aber danke ich dir für Zuspruch und deinen Kommentar.
      Herzlichst, Ulli

  2. Meine kleine Heimatstadt ist für den immensen Autoverkehr zu eng geworden. Laufend werden Häuser abgerissen, Bauträgergesellschaften bestimmen das Stadtbild und die Wohnsituation. Geschäfte verschwinden aus der Innenstadt, Einkaufscenter wuchern dafür aus den Randbezirken ins Grünland hinaus. Unbekannte hasten aneinander vorbei. Es hat sich sehr viel verändert.

    1. Das klingt auch nicht gut. Ja, es hat sich viel verändert. Eine Einsicht auf Erhalt in Lebensqualität lässt mehr oder weniger auf sich warten. Andererseits gibt es mittlerweile 8 Milliarden Menschen auf der Welt, in meiner Kindheit waren es ca. 2,5 …
      Herzliche Grüße, Ulli

  3. Auch ich bin als Stadtkind ohne Tiere aufgewachsen, liebe Ulli. Meine Mutter hatte Angst vor allem, was auf vier Beinen lief, deswegen bekam ich keinen Hund.
    Anfang der 50er Jahre in einer kleinen Stadt war das Leben – zumindest für uns Kinder – noch sehr gemütlich. Doch dann ging das wirkliche Großstadtleben los, erst Dresden, dann Berlin Ost – und richtig groß wurde es erst, als es ein Gesamtberlin war.
    Diese Riesenstädte sind nicht mehr menschenfreundlich, weil jeder nur auf irgendeine Art Gewinn machen will.
    Und dabei haben es die meisten deutschen Kinder noch sehr viel besser als die, die in frühen Jahren hungern müssen, arbeiten müssen, damit die Familie überleben kann und noch so viel mehr absolut nicht kindergerechte Sachen.
    Die Welt hat sich nicht zu ihrem Vorteil verändert und entwickelt.

    1. Das ist wohl wahr. Ich schrieb es gerade schon einmal, dass es in meiner Kindheit 2,5 Milliarden Menschen gab, jetzt sind es 8 und alle wollen ein Dach über den Kopf, Arbeit, Essen … und … ein Auto.
      Letzteres macht einen Hauptteil der Atmosphäre in Städten aus.

      Herzliche Grüße zur guten Nacht an dich, Ulli

  4. „We are lost in the city-y-y!“ (Heart of the sunrise/Yes1972)

    Apropos biergetränkter Boden:

    Neulich(vor vier Jahren) in Dublin im Touri-Nepper-Viertel 9 Uhr Samstagvormittag. Die Bars noch zu. Die Stühle noch hochgestellt. Manche Tür aber zum Lüften offen: Kellner fegen Kippen, Urin, Bierlachen in die Gullies. Und einer von ihnen hat die Stereoanlage aufgedreht und die Tür für den Fegejob besonders weit offen:
    „I must do my dirty job – so weeeellll!“(Steely Dan) Ich erkenn‘ das Lied und geh grinsend weiter.

  5. Wenn man vorher wüsste, dass man zu so einem aus dem Schlaf gerissenen, schnell irgendwohin verbrachten Menschenkind wird…und überhaupt…Eine Art Weltentext ist das! –

  6. Ich bin und bleibe ein Landpflanze mit einem Hang zum Gärtnern. Und das trotz kulturellen Nachteilen.

    Wir Kinder sassen in den fünfziger Jahren manchmal an Sonntagen auf der steinernen Treppe zum Konsum an der Hauptstrasse des Dorfes und wetteten u.a., welche Automarke als nächste vorbeifahren werde, ob das Auto zuerst von rechts oder links komme oder welche Farbe es haben werde.

  7. Die Metropolen dieser Welt könnten mir fremder gar nicht sein, denn ich bin ein Vorstadtkrokodil. Einzig Berlin ist mir seltsam vertraut, warum, das weiß ich nicht. Vielleicht, weil die Berliner Familienfreundin uns alle so prägte, mit ihrem Berlinerisch, herzlich und frech. Verirre ich mich doch mal in eine Metropole, mache ich artig meinen Kotau vor Kunst und Kultur, grusele mich gebührend ob der Menschen, die in Metropolen haufenweise vorkommen und freue mich dann schon wieder auf mein Vorstadtnest, das zwar auch alles andere als beschaulich ist, jedoch zumindest noch irgendwie überschaubar. Es sind nicht nur die Metropolen, die etwas Verschlingendes haben, etwas Babylonisches, weil sich hier Menschlichkeit an Menschlichkeit ballt. Es sind Meinungen, es sind Vorurteile und Missverständnisse. Die gibt es leider auch in dem kleinsten Kuhkaff. Ein starker Text ist Dir gelungen, der Metropolen eben besonders auch hervorhebt als Millionenstädte, in denen die Armut und das Elend die Vorherrschaft haben. Keine Glitzerstädte sondern Hüttenmeere.
    Mein Lesedank und ein lieber Gruß, auch an Frau Graugans von
    Amélie

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