24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 15

Den Schulweg bin ich immer mit dem Mädchen vom Einödhof gegangen. Wir waren allerbeste Freundinnen, bis sie mir dann irgendwann vor meinen Augen eiskalt und berechnend meine erste große Liebe ausgespannt hat, völlig leidenschaftslos, nur um zu sehen, daß es möglich war. Dieser Verrat hat mich so geschmerzt, daß es mir noch heute einen Stich ins Herz gibt.

Unser Schulweg ging durch den Wald und danach kam eine große Kiesgrube, von der ständig weiße Lastwägen hin- und herfuhren. Ein Fahrer gefiel uns ziemlich gut, er hatte dunkle Locken und immer einen roten Pullover an, und es ging einzig und allein um die Frage, schaut ER her oder nicht! In der Kiesgrube gab es Schubraupen und Bagger und an einem davon stand meist ein Mann und pinkelte. Das war nichts so Aufregendes, daß es uns besonders interessiert hätte und führte nur zu einem Kichern und der Bemerkung: schau, da ist wieder dieser Piesler, der muß aber oft, und damit war die Sache erledigt.

Was uns viel mehr interessiert hat, war das Fahrrad, das auf der anderen Seite an dem Holzschuppen neben der Straße lehnte. Wir ahnten, daß es dem geheimnisvollen „Esbedemann“ gehörte, den man nie zu Gesicht bekam, nur sein Rad. Wir hätten gerne dieses Rätsel gelöst, trauten uns aber nicht zu nah an den Stadel heran, wer wusste schon, wozu dieser Unheimliche fähig war. Als das Rad mal nicht dort stand, spähten wir hinein … und alles war leer … schaudernd liefen wir weg.

Alles hat sich irgendwann aufgeklärt. Als ich mal daheim zum Vater gesagt habe, Du Papa, der Baggerführer in der Kiesgrube muß aber oft pinkeln, der steht immer da, wenn wir vorbeigehen, da ist er hingefahren und nach einem kurzen Gespräch musste der nicht mehr so oft …

Der „Esbedehmann“ war wohl der einzige im Dorf, der das Parteibuch der SPD hatte, damals eine erwähnenswerte Auffälligkeit. Er hat dannJahre später die Lieblingsschwester meines Vaters geheiratet, die ihren Mann und eins ihrer sechs Kinder verloren hatte. Er hat wohl eine Frau gebraucht, die ihn versorgte und meine Tante eine Heimat und so ist sie in sein Haus gezogen. Mein Vater ahnte, das sie in dieser Ehe nicht sehr glücklich geworden ist. Ja, sie war eine sehr fromme Frau, musste viel Leid ertragen, alle haben sie bedauert. Ich habe mal mitbekommen, daß sie nach der Kirche am Gottesacker ihrer Tochter so eine schallende Ohrfeige gab, weil diese während der Messe geschwätzt hatte, daß die rote Baskenmütze aufs Nachbargrab geflogen ist. Da wusste ich plötzlich, daß fromm sein und böse sein zusammengehören können und ab da habe ich ihr das Lächeln nicht mehr geglaubt.

Der Stadel ist längst verschwunden und ob es im Dorf inzwischen viele gibt, die in der SPD sind … wage ich zu bezweifeln.

Und der junge Mann, der damals so oft pinkeln musste, der ist ein höchst ehrbarer und angesehener Großunternehmer geworden, irgendwo, ziemlich weit weg.

Und wenn ich den Weg heute gehe, und ein weißer Lastwagen kommt, schau ich automatisch, ob ich einen mit braunen Locken und rotem Pullover am Lenkrad sehe.

Ein Gedanke zu „24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 15

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.