24 T. – Der Weg: Tag 20

Cyanotypie aus der Serie 24 T / Motiv 20 - ©Michael Helminger (michael-helminger.de)
Cyanotypie – Eisenblaudruck Serie 24T(#20) – ©Michael Helminger

Heute, einen Tag vor Wintersonnwend sitzen die Wörter wie die Vögel mit zerzaustem Gefieder auf der Hochspannungsleitung. Gedanken springen zwischen den Drähten hin und her …

Am Nachmittag im Supermarkt suche ich das Regal mit dem Katzenfutter, das jetzt zum anderen Ende umgeräumt wurde und irre durch den ganzen Markt, zwischen Menschen hindurch, denen man ihre verzweifelte Lage anmerkt, die dann entsteht, wenn man so kurz vor Eventbeginn noch nicht alle Geschenke zusammen hat. Männer stehen ratlos vor Töpfen und Pfannen und silbernen Tischdecken … ein dicker junger Mann fragt ein kleines, mageres Mädchen nach der Kleidergröße der Mutti und hält einen lilafarbenen Pullover mit V-Ausschnitt in die Höhe … eine junge Frau wühlt in einem Haufen Hausschuhen und schreit ihr Kind an, das ständig irgendein Spielzeug daherschleppt, das Kind wirft zornig alles durch die Gegend und schreit auch … ein anderes Kind läuft elternlos irgendwo herum, den Mund schokoladenverschmiert und rennt einer Frau vor die Füße und mit dem Mund an die weiße Hose … es schreien jetzt mindestens vier Kinder  … ein Mann schreit ins Handy, daß es ihm jetzt endgültig reicht, er schleudert eine Pfanne zurück auf einen Haufen und geht mit finsteren Blicken zum Ausgang. Ich gehe am Kühlregal vorbei, da liegen drei kleine Hasen mit abgezogenem Fell, mit angelegten Löffelohren und daneben eine Großpackung Schweinezungen. Plötzlich schäme ich mich so vor den kleinen Hasen und den armen Schweinen und vor der ganzen Schöpfung.

Ich stehe ratlos da und weiß nicht, soll ich weinen oder lachen und mir fällt ein, daß mein Vater meiner Mutter mal Gabeln, Messer und Löffeln an Weihnachten geschenkt hat, weil wir immer zu wenig Besteck hatten. Und mir hat er vor ca. 45 Jahren einen Dampftopf geschenkt und an einem der nächsten Weihnachten einen Staubsauger … lieber Papa, beide sind noch in Betrieb, der Dampftopf schwächelt aber schon beträchtlich, der kann den Dampf nicht mehr halten, trotz neuem Dichtungsring.

Und dann steh ich so da und hinter mir bewegt sich ein Einkaufswagen bedenklich nahe an meine Kniekehlen heran und da fällt mir diese uralte Fernsehserie wieder ein mit diesem Bumerang. Wenn man ihn losfliegen ließ, wurde die Zeit angehalten, alle Bewegungen waren wie eingefroren, während er flog. Und ich denke mir, wenn ich so einen Bumerang jetzt hätte, würd ich ihn werfen und während dessen würde ich diese ganzen Decken und Kissen auf den Boden legen, ein paar Kerzen anzünden, den Restposten Tannenzweige dazu, alle Regale wegschieben, ein paar Zimtsterne  und paar Flaschen Glühwein zur Nervenberuhigung … und dann käme der Bumerang an und alle, wirklich alle hier in diesem Markt würden sich hinsetzen und sich erstaunt ansehen und dann würde man plaudern miteinander, und dann würde sicher jemand zum Singen anfangen, egal was, ich würde unbedingt  „Maria durch ein Dornwald ging“, „Es ist ein Ros´entsprungen“ singen und „An der Saale hellem Strande“,  und wir täten einfach sitzen und singen und irgendwann käme Bluetooth Verstärkung und dann tanzten wir wilden schweißtreibenden  Rockn Roll wie die Verrückten bis spät in die Nacht…

Und ich steh da und lache und die Tränen laufen mir übers Gesicht … manche schauen mich komisch an, die meisten merken nichts, ein kleines Kind hört auf zu schreien, lacht mich an und streckt mir eine schleimige halbe Banane entgegen. Es hat mich verstanden und ich sage zu ihm, gell wir würden herumhüpfen und tanzen … tanzen sagt es …dann zerrt die Mutter es weg und nimmt mir die Schleimbanane wieder ab.


 

4 Gedanken zu „24 T. – Der Weg: Tag 20

  1. Was ein Wahnsinn! Puh … nein, SO ist es hier nicht, ich staune ja immer noch über die wendländische Gelassenheit. Mit ‚moin‘ ist alles gesagt, selbst jetzt, so kurz vor Ladenpause von zweieinhalb Tagen …

  2. Der Text zeigt den ganzen Wahnsinn auf, der sich zur Weihnachtszeit abspielt.
    Ich kann das Wort besinnlich nicht mehr hören. Ich wohne in einem Dorf und jedes Jahr jagen manche ab Ende November Böller in die Luft. Es knallt , die Hunde schlagen an und die Tiere draußen irren durch die Nacht.
    Ich versteh die Welt nicht mehr!
    Liebe Grüße
    Gabriele

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