Die Eberesche streckt ihre Beerenarme hinauf zum Himmel. Dieses spezielle Rot gibt es nur einmal im Jahr und nur dann, wenn der Himmel genau dieses Blau hat wie jetzt im Altweibersommer. Und zusammen entsteht dann ein schier überirdisches Leuchten, das nicht mehr erklärbar ist, weder fotografierbar, noch mit Pinsel und Farbe einzufangen wäre. Man kann es nur schauen und empfinden und in sich hineintröpfeln lassen und glücklich sein, daß es existiert.
Genau diese Farbe des Himmels im Spätsommer hatten die Augen meines Vaters. Als wir damals mit dem Schiff über den Königssee gefahren sind, um dann beim Hinaufgehen zu der Stelle zu kommen, wo man am Fuß der steil aufragenden Watzmann Ostwand steht und ehrfürchtig am nahezu glatten Fels hinaufschaut und sich fragt, wie da jemals ein Mensch hinaufkommen kann. Und mein Vater sucht die Biwakschachtel, die da irgendwo befestigt ist, es ist Spätsommer, womöglich hängen ein paar Bergsteiger in der Wand, die dann dort übernachten müssen. Und ich sehe seine Augen, aus denen das gleiche, unglaubliche Himmelsblau leuchtet , in denen sich der steil abstürzende Felsen spiegelt und eine Sehnsucht darin schwimmt, unerklärbar und unerfüllbar diese große Liebe zum Felsen, zum Stein. Wäre er schwindelfrei gewesen, dann wäre ein großer Kletterer aus ihm geworden, er wollte am Stein hängen, ihn berühren mit seinem ganzen Dasein, aber da er halt nicht schwindelfrei war, mußte es genügen, auf nicht zu sehr ausgesetzten Wanderwegen hinaufzugehen um ihn anzuschauen mit dieser großen Sehnsucht
in so sehr blauen Augen.
Wie ein Bergsee waren sie, in dem sich dieser Spätsommerhimmel spiegelt. Ich werde immer ein wenig traurig, wenn ich hinaufschaue in dieses Blau und ich weine meinem Vater nach, der seine Sehnsucht mit hinüber in eine andere Welt genommen hat.
Auch wenn es noch so heiß ist wie zur Zeit, kommt eine kleine Melancholie daher, der Sommer hat sich wieder mal als eine kochendheiße Durchgangsstation gezeigt, eigentlich hat er ja auch nicht mehr zu bieten als alle anderen Übergänge, nichts ist fest, alles ist in ständiger Bewegung, nichts bleibt, nur vom Sommer wird immer extrem viel erwartet, der soll die geheimen Träume wahr werden lassen und die unerklärlichen Sehnsüchte stillen. Das schafft er leider nicht und auch wenn man fünfmal im Jahr in irgendwelche Urlaubsländer fliegt, zeigen sich davon Traum und Sehnsucht gänzlich unbeeindruckt, man bringt sie wieder mit nachhause. Und eigentlich bin ich froh darüber, mich sehnen und träumen zu können, denn ohne sie werden Menschengesichter erschreckend leer.
Die kleine Fledermaus fliegt jetzt wieder am Abend ihre Kreise um mich herum und sie besucht mich auch, wenn ich mich woanders hinsetze. Manchmal begegnet mir eine Eule, wenn ich etwas später durch den Wald radle, mit großen Schwingen fliegt sie am Rand der blauen Stunde entlang und verschwindet im Dunkel des Waldes.
In der Tenne steht zwischengelagert der neue Zwetschgenwein und blubbert vor sich hin, bald werden wir Apfelmost machen, der wird dann irgendwann im Keller stehen unter dem Gewölbe und ich freue mich sehr auf den ersten Schluck aus den Äpfeln, die ein wohlmeinender Kosmos so reichhaltig an den Bäumen wachsen läßt und sich im Fallen uns als Geschenk darbietet. Schätze sind das, die wir voller Dankbarkeit bearbeiten … bald wird auch aus dem alten Most ein ganz köstlicher Apfelessig entstehen.
Im Keller ist ein uralter Ort, ich weiß um ihn schon Zeit meines Lebens, seit ich Borghes lese, kann ich ihn benennen: es ist das Aleph, das dort existiert.
Mein Vater hat oft in bierseliger Laune weibliche Gäste in den Keller geschickt und ihnen erzählt, sie sollten aber aufpassen, denn dort unten würde der Basilisk hausen und dann war großes Gelächter, denn keine traute sich da hinunter. Natürlich war das alles ziemlicher Blödsinn, damit ließ es sich gut flirten, aber ich bin mir nicht sicher, ob er nicht doch auch ein wenig geahnt hat, daß dort unten ein besonderer Ort ist, den man nicht unterschätzen sollte.
Unsere Weine gedeihen prächtig dort im Reich der Spinnen und wer weiß, was noch.
Am Sonntag ist Tag des offenen Denkmals, eine ziemlich armselige Veranstaltung aber ich erfuhr trotz eines Fastnichts an Information doch, daß in dem kleinen Dorf in nicht mal drei km Entfernung eine spätgotische Kirche mit romanischem Ursprung steht, die es lohnt, aufzusuchen, schleunigst. Es ist schon interessant, wo ich schon überall auf romanischen Spuren herumgefahren bin, nicht nur deutschlandweit, sondern in Elsaß, Schweiz, Österreich, Italien, Frankreich – und obwohl ich sogar ein Jahr Grundschule dort absolviert habe, bevor die Schule neben der Kirche aufgelöst wurde, kenne ich die Kirche nicht. Das wird sich ändern. Auch erfuhren wir von einem neuentdeckten Kreuz – Oktogon mitten auf einer Wiese auf der Fraueninsel im Chiemsee. Auch dorthin werden wir fahren, möglichst an einem Novembertag mit Nieselregen, hoffend, daß sich dann endlich die Touristenmassen in Grenzen halten, bevor dann der große Ansturm zum Christkindlmarkt kommt, der ja jetzt Weihnachtsmarkt heißen soll. Wahrscheinlich wird er bald Wintermarkt heißen müssen, damit alle Christen, die das Christentum ablehnen trotzdem kommen und viele Liter Glühwein trinken und kunstgewerblich enorm wertvolles Zeug kaufen, das sie sich dann nicht mehr an den Christbaum, sondern an eine Art Winterbaum hängen, den sie zwar blöd finden, aber die Leere, in die ein Hl. Abend ohne Christbaum absackt, auch nicht aushalten.
Wie dem auch sei, jetzt ist es noch immer brütend heiß und wir bräuchten dringend eine Nacht mit diesem leichten, warmen Sommerregen, den es früher oft gab, da hab ich mich oft unter die Dachtraufe gestellt und mich sanft berieseln lassen.
Am geheimen Platz der wilden Frauen sitzt mümelnd ein kleiner Feldhase und schaut mich an und ich schaue zurück, erst als er unseren Kater, den roten Willie sieht, der maunzend hinter mir her trottet, hoppelt er hinein ins Gebüsch und verschwindet spurlos.