Wenn am frühen Abend die Sonne immer goldener wird, bevor sie dann als roter Ball in den Chiemsee fällt, fahre ich meine immer gleiche Radlrunde durch den Wald, vorbei an Wiesen und Äckern. Lange schon ist das Korn geerntet … ist ein Schnitter, heißt der Tod … nur der Mais steht noch. Auf den meisten Feldern wurde alles Unkraut vernichtet, nur bei ein paar wenigen durften an den äußeren Rändern wilder Beifuß, Beinwell, Schafgarbe sich ansiedeln und eine Schlingpflanze an den Maisstangen der vorderen Reihen sich emporranken. Als Kinder sind wir im Spätsommer gerne zu den Getreidefeldern und haben die wilden Erbsen roh aus den Schoten gegessen. Unzählige davon wuchsen dort und rankten sich um die Getreidehalme. Das, was sich jetzt um den Mais schlingt, schaut genauso aus und ich bekomme die alte Kinderlust, die Schoten aufzubrechen. Aber ich wage es nicht, vieles ist nicht mehr das, was man meint, daß es ist. Während ich durch den warmen Herbstabend fahre, läuten die Kirchenglocken mit warmen angenehmen Klängen. Früher mußten die Dorfkinder beim Läuten heimgehen … Wo sind eigentlich die Kinder, frage ich mich, wenn ich durch das Dorf fahre. Nirgends ist eines zu sehen. Mein Kinderfreund und ich, wir spielten damals an diesen warmen Abenden stundenlang „Bäreneintreiben“, da mußte man mit einem Stock eine alte Blechbüchse in ein Loch am Boden hinein bugsieren und sich gegenseitig dabei behindern. Oder wir spielten „Ochs am Berg“ und wenn mehrere Kinder da waren, „Räuber und Gendarm“. Wir spielten auch „Fürchtet ihr euch vorm Schwarzen Mann“, das habe ich nicht als lustiges Spiel in Erinnerung, wenn ich heute an den Text denke, läuft mir immer noch ein Schauder über den Rücken. „Fürchtet ihr euch vorm schwarzen Mann? Nein, nein, nein! Wenn er aber kommt? Dann laufen wir davon!“ Wir rannten schreiend auseinander, niemand wusste bis dahin, welches Kind der Schwarze Mann war, niemand wollte sich von ihm berühren, fangen lassen … wir rannten um unser Leben. Hatten wir sowas wie eine Ahnung, daß der Schwarze Mann der Tod war?
Als Ausgleich gab es „Die schwarze Köchin“, vor der wir uns versteckten unter einem der zahlreichen Hollerbüsche. Heute weiß ich, daß es in diesem Spiel um die Geschichte einer uralten schwarzen Göttin geht, zu deren Reich man durch einen Eingang im Hollerbusch gelangt. Der Holunder war einst so heilig, daß mein Großvater und alle übrigen Männer in seiner Nähe ihren Hut abnahmen. Und obwohl diese Schwarze Köchin im Spiel sich Kinder holte, hat sie uns nicht geängstigt und wir saßen kichernd husch, husch, husch im Hollerbusch. Seltsam, wie ausgestorben die Dörfer in der langen Sommerferienzeit sind. Was wohl die Kinder heute für Spiele spielen, vor allem: Wo spielen sie? Man begegnet ihnen nicht mehr irgendwo draußen. Ihr Lachen ist so unhörbar geworden. Es gibt sie, doch wo sind sie nur?
Vorhin wurde es auf der Bundesstraße laut, sehr laut. Schon wieder dieses Dröhnen und dann kommen sie, die Panzer und alles übrige auch, das große Besteck sozusagen, alles rumpelt durch das Tal mit grausigem Krawall. Und dann gehen plötzlich zwei kleine Mädchen mit langen, wippenden Pferdeschwänzen an unserem Haus vorbei. Sie schleppen einen großen Einkaufskorb in Richtung Wald und sind so sehr in ihr Gespräch vertieft, daß sie gar nichts um sich wahrzunehmen scheinen. Nach kurzer Zeit kommen sie wieder zurück, der Korb ist noch leer und die beiden sind immer noch ganz versunken in ihr Gespräch. Anscheinend haben sie sich Wichtigstes mitzuteilen, zwischendurch lachen sie kurz und dann wieder sind sie mit so einer ausschließlichen Ernsthaftigkeit in die Sache vertieft, wie nur Kinder das können.
Der Militärkrach auf der Straße ist leider so laut, daß ich nicht verstehen kann, über was sie reden, sie hören sich aufmerksam zu und schauen einander an, wenn sie sprechen. Gemeinsam schleppen sie den Korb, die kleinen Hände sind sich so nah wie ihre Herzen.
Wie schön das ist, eine Freundin zu haben, der man alles erzählen kann, egal wie laut der Krach ringsherum auch sein mag.
Und hier erzählt die Kraulquappe!