Jetzt sitz ich schon zum 10. Mal hier um die gleiche Zeit und warte … auf Wörter, die sich hoffentlich zu passablen Sätzen formen, die ich dann hinausschicken kann, als Notizen zwischen Himmel und Erde. Heute warte ich auch noch sehnlichst auf Nachricht meiner Herzensfreundin, die am Morgen, von unliebsamer Geschichte hoffentlich befreit und jetzt frisch operiert im Aufwachraum sich wieder dem Leben entgegenstrecken wird. Ich hab eine Kerze für sie angezündet an einem heiligen Ort zu Füssen der Himmelsfrau. Wenn das Gefälle der Ereignisse zu hoch ist und sich jeglicher persönlicher Beeinflussung entzieht, dann kann man nur noch nach oben abgeben und versuchen, Demut zu üben. Demut, was für ein Wort … es läßt sich zerlegen in Dienen und Mut. Sich zu ergeben, und dem Großen Weltengeschick dienend anzuvertrauen, dazu braucht es freilich Mut.
Endlich hat es geregnet, viel zu kurz und viel zu wenig, aber zumindest so viel, daß sich alle Wesen über und unter der Erde vor dem Verdursten retten konnten. Ich habe mich in diesen warmen Sommerregen gestellt und mir war, als wäre ich von unzähligen offenen Mündern umgeben, die begierig jeden Tropfen aufsaugen wollten … Trinken, nur noch Trinken … ob es dafür gereicht hat, die tiefen Risse der verwundeten harten Erde mit Wasser zu füllen? Jetzt wird wieder viel von der sogenannten Leichtigkeit des Sommers geredet. Ich kann in der bleiernen Schwere der schwülen Hitze, in den ausgetrockneten Bächen und den verdorrenden Wiesen, auf die auch noch hunderttausende von Litern Gülle geschüttet wird, nichts Leichtes erkennen. Am Chiemsee gibt es eine Mückenplage, die ersten Touristen sind schon deshalb abgereist, angeblich. Manchmal kommt es mir vor, als wäre diese Leichtigkeit des Sommers eine Erfindung der Tourismusindustrie und Oberbayern ein großer Freizeitpark und mir fallen die grandiosen Filme „Future World“ ein und das Beste, was es über die touristisch erschlossenen Alpenländer gibt: „Die Piefke Saga“, von Felix Mitterer geschrieben! Das spielt zwar in Tirol, aber ätzender und desillusionierender kann man eigentlich nicht beschreiben, was sich hierzulande abspielt.
Das, was der Sommer an alten Wunden offenlegt, das übergießt ein warmer Regen mit heilendem Balsam.
Vor paar Tagen stellte sich von Schrecken begleitet heraus, daß mein Ausweis schon vor vier Monaten abgelaufen ist. Also schnell das volle Programm: Frisörin, Fotostudio, Gemeinde. Das Schlimmste ist das Foto. Ich hasse dieses Hinsetzenmüssen und irgendwie so schauen, daß es ein gutes Bild wird. Und das Ergebnis ist dem Schulfoto, zu dem ich als Erstklässlerin gezwungen wurde, sehr ähnlich … ein total verkrampftes Geschaue in völlig unnatürlicher Kopfhaltung, von der freundlichen Fotografin in kamerataugliche Position gedreht … wie damals, vor über 60 Jahren. Ich hatte plötzlich während der Prozedur dieses Déja- vùs, und ich sah den gebräunten Arm der Schulfotografin vor meinem Gesicht und hatte ihren Geruch in der Nase, der mir sehr unangenehm war. Ihr Arm, der ständig an mir herumfuchtelte, roch nach Rauch und Schweiß und irgendeinem süßen Parfum, alles in allem war mir zuwider und so schau ich auch auf dem Foto als kleines Mäderl. Heute sehe ich auf dem Foto eine verkrampft ernsthaft schauende Frau mit fast 71 Jahren und ich frage mich, ob es wohl das letzte Foto sein wird. 10 Jahre ist der Ausweis gültig, gibt es mich dann noch?
Wie oft werde ich wohl noch Ribislgelee einkochen, war es die letzte Aprikosenmarmelade, frage ich mich, als sie angebrannt ist, weil ich mir beim Hantieren ein spitziges Messer in den Daumen gerammt habe. Wie oft werde ich noch einen Ribislkuchen machen, beim jetzigen ist mir das Baiser verbrannt, als ich Ben Becker beim Rezidieren von Paul Celan zuhörte … Ach diese Fragen nach dem letzten Mal sind müßig und eine Falle, die das Leben trostloser macht, als es ist und ich versuche, sie abzuschütteln. Denn eine Stimme tief in mir sagt, egal wie alt wir sind, wir haben immer gleich viel Lebenszeit, nämlich diesen jetzigen, flüchtigen Moment.
Die Kraulquappe und ich, wir haben eine sehr besondere Verbindung. Unsere Empfindungen kreuzen sich manchmal herzmäßig und wunderbar an den merkwürdigsten Stellen, und da, wo wir uns am Fremdesten sind, kommen wir uns so nahe, daß wir gegenseitig die Schutzschirme der schlecht verheilten Wunden spüren.
Ich liebe es, wenn sie sagt: „Bei Dir im Bergland“, weil das so stimmt und weil sie als Großstädterin nicht bei Euch „am Land“ sagt, denn das würde nicht stimmen. Und sie nennt mich „Gefährtin“. Ja, das bin ich gerne mit ihr, Gefährtinnen auf der Reise, mal näher, mal ferner, die Gefahren umkreisen aber auch mitten hinein und hindurch. Und wir sind uns sehr ähnlich in der Punktgenauigkeit der 12 Uhr Mittag – Vorgabe. Auslegen tun wir’s, wie es uns entspricht … die Kraulquappe schickt pünktlich um 12 Uhr ihren Text raus und ich setze mich pünktlich um 12 Uhr hin, um ihn zu schreiben! So sind wir und ich freu mich auf weiteres Parallelschreiben und überhaupt bin ich froh, daß es Dich gibt, liebe Kraulquappe!!
„Die Welt ist alles, was der Fall ist“ (Wittgenstein Tract.)