Archiv für den Monat: Dezember 2022

24 T. – Mutmaßungen … Tag 11: Über das Strawanzen

Das Kind läuft hinaus, um zu sehen, was hinter diesem fremden  Haus ist. Da gibt es diese Stiege, sie führt weit hinauf  und oben geht es auf der anderen Seite gleich wieder hinunter. Schneeflocken tanzen im Schweben, das Kind tanzt mit, dreht sich und pflückt sie vom Himmel wie silberne Blumen. Es läuft durch den frischen Schnee weiter und weiter, da hängt eine Schaukel an einem Baum … weit hinauf, bis dahin, wo die Schneeflocken herkommen … der Baum schüttelt sich und das Kind wird nass und es fängt an zu frieren. Von weit her läuft es auf das fremde Haus zu und durch eine Türe hinein. Ein Gang, lang und dunkel, aus einem Türspalt fließt ein kleiner Lichtschein dem Kind vor die Füße, was ist wohl hinter der Türe? Ein leises Stimmchen ruft: komm doch … drinnen ist ein Christbaum, so groß, wie ihn das Kind noch nie gesehen hat, er ist mit Silber übergossen, das funkelt im Schein der Kerzen, aber es ist doch noch nicht Weihnachten, denkt das Kind, war denn hier schon das Christkind? Alles ist geheimnisvoll in diesem Zimmer, lange weiße Vorhänge, bis zum Boden, ein Bett irgendwo in diesem großen Raum, ein Saal in einem Märchenschloß … ein Mädchen, nur wenig älter als das Kind rutscht aus dem Bett. Es hat ein langes Nachthemd an, oder ist es ein Prinzessinnengewand, und kommt näher. Das Kind will die Hand nicht nehmen, die sich ihm entgegenstreckt, sie ist so weiß wie Porzellan, auch das Gesicht ist ganz bleich. Das Mädchen sagt  etwas mit ganz leiser Stimme, es atmet schwer und seine Lippen sind so blau. Im Raum riecht es komisch, das Kind möchte verschwinden, da geht die Türe ganz auf, ein Mann kommt herein und trägt das Mädchen zum Bett, du darfst doch nicht aufstehen, dein Herz ist zu schwach. Wir warten auf die Operation sagt er. Das Kind schreit laut: Nicht einsperren, du darfst sie nicht einsperren, sonst stirbt sie! Es schreit ganz laut, aber niemand hört es, denn es sagt nichts.

Die Eltern schimpfen, wo warst du denn schon wieder, ständig bist du wie vom Erdboden verschluckt, du darfst nicht immer weglaufen.

Als ich mit dem Auto an dieser Kreuzung stehe, irgendwann kurz vor Weihnachten, da schaltet die Ampel auf grün,  ich sehe die tanzenden Schneeflocken und möchte ihnen folgen, irgendwohin in die Dunkelheit, einen Umweg ins Nirgendwo. Hinter mir hupt einer, und während ich noch kurz zögere, rauscht ein großer Wagen bei rot über die Kreuzung. Ich fahre los mit Herzklopfen und weine ein wenig vor Schreck, aber dann überflutet mich diese Lust, einfach mich treiben zu lassen ohne Orientierung, bei Schneefall und Nebel mich aufzulösen im Tanz des Universums … heimliche Wege gehen, die sonst nur die Sterne kennen.

Daheim steht Kater Herbert an der Türe und möchte raus. Gehst auch strawanzen, sage ich, aber da ist er schon weg, verschwunden ums rechte Hauseck herum und von der Nacht verschluckt.

24 T. – Mutmaßungen … Tag 10: Über die Stadt

Die Stadt

Stadtkinder spielen andere Spiele

Ich bin in der Stadt aufgewachsen. Kein Hund, keine Katze, kein Huhn, kein Hahn, keine Kuh, kein Schwein.

Plattenwege und Innenhöfe, viele Kinder, großer Sandkasten, Rutsche, Klettergerüst und Schaukel. Hier spielte sich das Leben ab.

Manchmal riefen der nahe Wald, der Bahndamm, die Straßenbahnendstation, die Berge und der Kanal, die Fahrradtouren durch die Felder, hin zum nächsten Schwimmbad.

Ich hatte keine Angst. Nur wenige Autos, ein paar skurrile Typen, die jede=r kannte.

Ein Kiez ist auch nur ein Dorf.

Hier kannte Jede Jeden, Frau Milchgeschäft und ihre Tochter, den Schutzmann an der Ecke, die Eierfrau und natürlich die Uralte mit der winzigsten Eisdiele der Welt.

Überhaupt, man kannte sich, man grüßte, man kaufte bei denen, die man kannte und manchmal tratschten die Mütter auf dem Boden beim Wäscheversorgen. Man lieh sich ein Ei oder ein Tässchen Mehl, hütete gegenseitig die Kinder und ließ es gut sein.

Doch, ich hatte Angst. Im Keller wohnte der Buhmann. Im Keller waren die Kartoffeln und das Eingemachte, mein Fahrrad.

Blöde Erwachsene!

Zwanzig Jahre später, in einer anderen Stadt, einem anderen Kiez, war es auf den ersten Blick nicht viel anders. Es fühlte sich heimatlich an. Selbst die Amsel sang am Morgen und am Abend in den Höfen.

Die Welt war schneller geworden, lauter, enger, fremder, wütender. Die Häuser höher, die Autos mehr und ihre Fahrer=innen rücksichtsloser. So manches Mal fürchtete ich um meine Kinder.

Ein Buhmann wohnte nicht im Haus.

Die Metropolen der Welt wachsen in den Himmel, fressen Land.

Die Metropolen der Welt sind keine sicheren Orte mehr.

Die Metropolen der Welt verschlingen ihre Kinder.

In den Städten der Welt steht kein Stuhl mehr vor der Tür.

In die Städte der Welt kehrt keine Ruhe mehr ein.

In den Städten der Welt gibt es schon bald keinen bezahlbaren Wohnraum mehr.

Über den Metropolen der Welt leuchten keine Sterne mehr.

In den Metropolen der Welt finden sich noch Oasen.

Unter den Metropolen der Welt rattern die Bahnen.

Kunst und Kultur spielen in den Städten. Zeitgeist auch. Zu welchem Preis?

Warum denke ich die ganze Zeit, wenn ich an Stadt denke, an die Straßenkinder Brasiliens? Freiwild. Aber nicht nur in Brasilien.

Und ich denke an die nächtlichen Lager unter Brücken, in Parks, im Kaufhauseingang. Freiwild – auch sie. Und all diese Schergen, die mit eisernen Besen kehren. Nach unten treten geht immer noch ein Stückchen tiefer.

Ich denke an biergesättigte Kneipenböden in frühen Morgenstunden, an Kippen, die darin schwimmen, an Nachtschwärmer und Überbleibsel, an:

All the lonely people, where do they all come from? All the lonely people, where do they all belong?“

Text:
Ulli Gau

24 T. – Mutmaßungen … Tag 9: Über die Freundschaft (2)

Die Freundschaft.

Oder: Der Dekalog der Freundschaft Versuch, ein Geländer zu errichten, an das Befreundete oder solche, die es werden wollen, sich vielleicht halten können.

 

Anhalten:

  • wenn du bemerkst: da sendet/empfängt/schwingt jemand auf ähnlicher Frequenz, und falls der andere das ebenfalls feststellt, dann heißt es gut hinhören/-schauen/-spüren, vielleicht erwächst ja mehr draus, und falls nicht, so war’s die intensiven Augenblicke trotzdem wert

 

Freihalten:

  • reservier dem Freund stets einen Platz: in deiner Zeit, in deiner Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, in deinem Lebenskarussell, denn es bedarf der gewussten/gefühlten/geteilten Gemeinsamkeiten, damit die Freundschaft wächst, gedeiht und auch Durststrecken zu überstehen vermag

 

Zusammenhalten:

  • durch Gezeiten und Fährnisse, durch Krisen und Krankheiten, die mal dich, mal den Freund und – wenn’s dumm läuft – euch beide zeitgleich erschüttern, und erschrick nicht: manchmal besteht Zusammenhalten in solchen Zeiten vor allem darin, dass man einander auszuhalten lernt

 

Festhalten:

  • wenn der Freund arg nah am Abgrund tänzelt oder im Malaisenmeer zu versinken droht, dann sollst du ihn festhalten bis er sich wieder fängt, und bis er sich wieder gefangen hat: ihm nicht vorhalten, dass er tänzelte oder versank oder deine Hand nicht gleich sehen konnte oder ergriff

Innehalten:

  • sobald die Freunde empfinden, dass sie einander ein Stück weit Heimat geworden sind, sollten sie von Zeit zu Zeit bewusst innehalten, um voller Freude und Genuss die Landschaft zu betrachten, die sie sich gemeinsam erschaffen und zum Erblühen gebracht haben

 

Hochhalten:

  • die Werte, die du mit dem Freund teilst, sollt ihr nicht nur hochhalten, sondern ab und an auf Aktualität und Gültigkeit überprüfen und euch ehrlich über Differenzen austauschen, denn die verschwiegenen Unterschiede in der Gesinnung sind der schleichende Tod der Freundschaft

Raushalten:

  • sobald du erkennst: der Freund will im Moment weder Rat noch Kommentar zu seinem Tun oder Nicht-Tun, sondern bloß Zustimmung oder Schweigen, dann schweig am besten oder nick nur stumm, zuvorderst gilt das für den frisch verliebten oder frisch entliebten Freund

 

Dichthalten:

  • wenn der Freund dir das Innerste seines Herzens ausschüttet, und zwar inklusive des Mördergruben-Parts, so ist über das Mitgeteilte fortan unbedingtes Stillschweigen zu bewahren, nicht nur gegenüber Dritten, sondern je nach Gemütszustand auch gegenüber dem Freund selbst

 

Aushalten:

  • die fortwährende Annäherung an die größtmögliche Aufrichtigkeit erfordert auch ein Aushalten derselben: denn in den Sternstunden einer Freundschaft offenbarst du dem Freund nicht etwa deine Schwächen, sondern die seinen

Durchhalten:

  • wann immer Freihalten, Zusammenhalten, Festhalten, Innehalten, Hochhalten, Raushalten, Dichthalten oder Aushalten schwer oder unmöglich ist, kann es hilfreich sein, dich in der Kunst des Durchhaltens zu üben, bis du weißt, ob es mit Beibehalten oder Fernhalten weitergehen wird

Text:
Kraulquappe 

24 T. – Mutmaßungen … Tag 5: Über das Land

Das Land

Jedes Land hat sein eigenes Lied.“

Am Anfang war das Land. Geformt von den Bewegungen der Erde, des Wassers, des Windes, den Tieren und Pflanzen. Später formten auch die Menschen.

Aus Wandernden wurden Sesshafte, aus wildem Land gezähmtes Ackerland. Es wuchsen kleine und größere Siedlungen, die später zu Städten mutierten. Nun ward der Unterschied geboren – Stadt und Land. Und das Land wurde immer noch zahmer. Wildes in Großstadtrevieren, Kartoffeln, Lauch, Getreide und so weiter brav auf umfriedetem Land.

Landflucht. Stadtflucht. Die Speckgürtel der großen Städte fressen sich immer weiter ins Land. Aber wehe, wenn der Hahn kräht, der Mist stinkt, die Landwirte düngen!

Es hatte noch jedes Volk ein Nachsehen, wenn es das Land, das es bewohnte, nicht als „sein Land“ begriff. Das geht nun auch schon hunderte von Jahren so.

Das Land aber verschenkt sich immer weiter. Gedankt wird es ihm kaum.

Text:
Ulli Gau