Archiv für den Tag: 10. Dezember 2022

24 T. – Mutmaßungen … Tag 10: Über die Stadt

Die Stadt

Stadtkinder spielen andere Spiele

Ich bin in der Stadt aufgewachsen. Kein Hund, keine Katze, kein Huhn, kein Hahn, keine Kuh, kein Schwein.

Plattenwege und Innenhöfe, viele Kinder, großer Sandkasten, Rutsche, Klettergerüst und Schaukel. Hier spielte sich das Leben ab.

Manchmal riefen der nahe Wald, der Bahndamm, die Straßenbahnendstation, die Berge und der Kanal, die Fahrradtouren durch die Felder, hin zum nächsten Schwimmbad.

Ich hatte keine Angst. Nur wenige Autos, ein paar skurrile Typen, die jede=r kannte.

Ein Kiez ist auch nur ein Dorf.

Hier kannte Jede Jeden, Frau Milchgeschäft und ihre Tochter, den Schutzmann an der Ecke, die Eierfrau und natürlich die Uralte mit der winzigsten Eisdiele der Welt.

Überhaupt, man kannte sich, man grüßte, man kaufte bei denen, die man kannte und manchmal tratschten die Mütter auf dem Boden beim Wäscheversorgen. Man lieh sich ein Ei oder ein Tässchen Mehl, hütete gegenseitig die Kinder und ließ es gut sein.

Doch, ich hatte Angst. Im Keller wohnte der Buhmann. Im Keller waren die Kartoffeln und das Eingemachte, mein Fahrrad.

Blöde Erwachsene!

Zwanzig Jahre später, in einer anderen Stadt, einem anderen Kiez, war es auf den ersten Blick nicht viel anders. Es fühlte sich heimatlich an. Selbst die Amsel sang am Morgen und am Abend in den Höfen.

Die Welt war schneller geworden, lauter, enger, fremder, wütender. Die Häuser höher, die Autos mehr und ihre Fahrer=innen rücksichtsloser. So manches Mal fürchtete ich um meine Kinder.

Ein Buhmann wohnte nicht im Haus.

Die Metropolen der Welt wachsen in den Himmel, fressen Land.

Die Metropolen der Welt sind keine sicheren Orte mehr.

Die Metropolen der Welt verschlingen ihre Kinder.

In den Städten der Welt steht kein Stuhl mehr vor der Tür.

In die Städte der Welt kehrt keine Ruhe mehr ein.

In den Städten der Welt gibt es schon bald keinen bezahlbaren Wohnraum mehr.

Über den Metropolen der Welt leuchten keine Sterne mehr.

In den Metropolen der Welt finden sich noch Oasen.

Unter den Metropolen der Welt rattern die Bahnen.

Kunst und Kultur spielen in den Städten. Zeitgeist auch. Zu welchem Preis?

Warum denke ich die ganze Zeit, wenn ich an Stadt denke, an die Straßenkinder Brasiliens? Freiwild. Aber nicht nur in Brasilien.

Und ich denke an die nächtlichen Lager unter Brücken, in Parks, im Kaufhauseingang. Freiwild – auch sie. Und all diese Schergen, die mit eisernen Besen kehren. Nach unten treten geht immer noch ein Stückchen tiefer.

Ich denke an biergesättigte Kneipenböden in frühen Morgenstunden, an Kippen, die darin schwimmen, an Nachtschwärmer und Überbleibsel, an:

All the lonely people, where do they all come from? All the lonely people, where do they all belong?“

Text:
Ulli Gau