Archiv für den Tag: 4. Dezember 2022

24 T. – Mutmaßungen … Tag 4: Über den Stein

Ich lebe auf einem der beiden Hügel, die der Gletscher zurückgelassen hat, als er unser Tal ausgeschoben hat. Beim Ausgraben der Pflanzlöcher für die Rosen bin ich auf unzählige Steine gestoßen, umgeben von größerem und kleineren Geröll. Ein paar Steinhaufen liegen ums Haus herum. In alten Zeiten, als die Menschen noch um die Existenz der Wildfrauen wussten, da wussten sie auch, daß diese in den Steinhaufen lebten und niemand wäre auf die Idee gekommen, sie wegzuräumen. Über den Stein zu mutmaßen heißt, mich in Gebiete zu begeben, in denen alle Wirklichkeiten an den Rändern ausfransen. Sagengut fließt zusammen mit Erträumtem, Überliefertem und selbst erlebten Geschichten von steinernen Begegnungen.

Der Stein ist nicht aus Hartem gefertigt,
der Stein ist gemacht aus einem Ei,
der Steinblock aus einem Schaumklumpen.
Du wirbeltest als Weizenteigkügelchen,
als Roggenbrotklumpen
auf dem Feldrain der Zauberin.
(Finnische Ursprungsrunen)

Wenn ich meinen Weg um den kleinen schwarzen See herumgehe, meistens in der Dämmerung, dann spüre ich ihn, den Berg. Ich gehe an seinen Wänden entlang und niemals habe ich das Gefühl, daß der Stein kalt ist. Und mein Vater fällt mir ein, der hat immer vehement abgestritten, daß das Eisen kalt sei, denn es käme doch aus dem Bauch der Erde … der Stein ist auch nicht kalt.  Übriggeblieben nach dem Rückzug des  Urmeeres, liegt er da und ich spüre seine verdichtete Existenz. Riesinnen seien unterwegs gewesen, heißt es, wilde, starke Weiber, Ihre Haare wehten wie Sumpfgras im Wind, sind herumgestapft und haben Steinbrocken herumgeworfen… Uralte Mythen sprechen von einer alten Zauberin, die im Tanz dieses Ei verlor, das in die Welt fiel als Klumpen, als ihre laszive Laune, Gestalt aus ihren Sinnen geformt, von Schaum umgeben, verdichtetes Wünschen, Sehnen, Begehren, umtanzt von einer Riesin. Ich nenne sie „die Graue vom Berg“. Wenn ich so gehe bei Steinen, begleiten mich oft eine Art Traumgesichte. Auf meinem Seeweg ist es ein Findling, der verborgen im Schilfufer liegt, eine Sage erzählt von Lichterscheinungen an diesem Ort, mir ist manchmal, als sähe ich an seiner Rückseite eine Art von Gestalt, im Stein eingeschlossen. Sie ist nur manchmal sichtbar. Wenn ich sie sehe, nicke ich ihr zu und gehe meinen Weg weiter am Berg entlang. Ich gehe diesen Weg schon viele Jahre, aber ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich beim Hinfahren überdeutlich erkenne, daß der Berg etliche km weiter östlich aufragt … über meinem Seeweg ist nichts Steinernes, sondern ich gehe an einem kleinen Hügel entlang, einem Waldbuckel, wie wir sagen.

Ein Phänomen, dem ich manchmal begegne ist das, was ich im Stein eingeschlossen sehe. Ein österreichischer Bildhauer (Karl Prantl) hat davon gesprochen, daß ihn unzählige Augen aus dem Stein heraus anschauten, wenn er ihn bearbeitet hat. Bei mir sind es meist Gestalten. Sie sitzen oder liegen im Stein und schauen mich an oder haben kein erkennbares Gesicht. Warum ich da immer wieder etwas sehe, was andere offenbar nicht sehen, weiß ich nicht, ich frage auch nicht danach. Die Steine bleiben stumm, zumindest für Menschenohren. Ich habe Ahnungen, aber dafür gibt es keine Worte.

Ein besonderes Erlebnis hatte ich vor ein paar Monaten. Wir fanden nach längerer Suche einen Steinkreis oberhalb eines Dorfes im Bayrischen Wald und gingen um die Steine herum. Der Ort hat eine schwere Vergangenheit … er scheint eine uralte kultische Stätte gewesen zu sein, auf der sich wohl auch später noch Menschen trafen und sich vergnügten, und angebliches Teufelszeug trieben. Eine schreckliche Geschichte: Frauen wurden der Zauberei bezichtigt und gefoltert und dann wurden zwei Frauen, eine war 13 Jahre alt, lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt im Jahr 1703.

Dieser Ort im Wald ist seltsam und die Gräuel dieser Vergangenheit legen sich wie ein schwerer Mantel über die Schultern, aber es ist auch noch was anderes in diesen Steinen, zu zwei Kreisen geformt, ein großer, zum Teil zerstörter und ein vollständiger kleiner Kreis. Und vom Mittelstein kam ein Sog, der mich hinzog zu ihm. Ein großer Stein, ein Felsbrocken, zwei tiefe Furchen, oder sind es Falten in der Zeit überkreuzen sich in seiner Mitte … die Energie ist so verdichtet, daß man sich wegreissen muß, um nicht hinauszuwirbeln in einen Zustand, fernab von Zeit und Raum … ich höre meine Freundin unablässig singen und komme zurück, von woher auch immer.  Als ich den Platz verlasse, drehe ich mich nochmal um und sehe sie. Die Graue im Stein. Sie sitzt im Mittelstein an der Hinterseite und merkwürdigerweise sieht sie genauso aus, wie die Figur, die ich mal vor vielen Jahren aus Ton geformt habe. Ein Mischwesen mit einer etwas unförmigen , schalenartigen weiblichen Gestalt und einem Vogelkopf mit großem Schnabel. Nie wusste ich so recht was anzufangen mit dieser Figur und hatte sie vergessen.

Fragen führen ins Leere. Ich schaute sie an und freute mich über die Begegnung.

Stein im Stein im Stein im Stein.

Steine sind stumme Lehrer.
Sie machen den Beobachter stumm,
und das Beste, was man von ihnen lernt,
ist nicht mitzuteilen.
(Johann Wolfgang von Goethe)

Text:
Margarete Helminger