Die wilden Rosen leuchten in einer Farbe, die so schmerzhaft schön ist, daß sie schier das Herz zerreißt. Niemand könnte sie je malen, oder gar fotografieren, ohne ihr die Seele zu rauben. Das Rosarot verändert sich ständig, die Nuancen wechseln je nach Sonnenstand. Selbst ausgesät wachsen sie schnell und heftig und ihre Blütenpracht ergießt sich wie Kaskaden von irgendwoher bis irgendwohin, bildet Bögen zu anderen Sträuchern oder Bäumen und fällt schließlich zu Boden, um wieder Wurzeln zu bilden, wenn man sie läßt. Sie blühen nur einmal, die wilden Rosen und dabei duften sie betörend zart und und locken wilde Bienen und Hummeln an, die schwer beladen und von süßem Nektar berauscht ein wenig torkelnd wieder wegfliegen. Vom Hollerbusch tropft die Zeit, eben noch hingen die Sterne an seinen Dolden, jetzt sind es schon grüne Beeren geworden und die wilden Rosenblüten sind abgefallen längst, schwer von Hagebutten neigen sich die Zweige.
Im Wald fahre ich mit dem Rad immer an einem abgebrochenen Baumstumpf vorbei, der am Fuß eines Abhangs übriggeblieben ist nach dem letzten wilden Sturm, seinen spitzen Holzfinger ausstreckt und mich immer an den „Salvator Mundi“ erinnert. Dessen merkwürdige Fingerhaltung ist mir unangenehm, auch wenn sie angeblich eine segnende Geste zeigt, ich traue diesen Fingern nicht, sie kommen mir entgegen, aus dem Bild heraus bohren sie sich in mein Leben. Je länger ich in dieses Gesicht schaue, dessen eine Hälfte wegschwimmt, umso unheimlicher wird mir sein Geheimnis. Und beim Blick in die leicht schielenden Augen werde ich schwindlig. Auf mich wirkt die Haltung der Finger abwehrend, so als würde wieder damit dieses „Noli me tangere“ gesagt, wie um mir mitzuteilen: Komm mir nicht zu nah, ich bin und ich bin es nicht, der, den Du suchst…
Nach einem schwülen Tag zieht langsam das Gewitter auf. Vorhin sind wieder Panzer durchs Tal gerollt, sie haben diesen Lärm hinter sich hergezogen, den nur Panzer machen, dumpf und bis ins Mark verstörend.
Jetzt ist es plötzlich sehr still, sogar die Vögel halten den Schnabel. Das, was sich zusammenbraut, kommt näher. Donnergrollen von Westen her.
Wir müssen fliehen, sagt der Reiter zu seinem Roß. Das Roß ist aus Stein und der Reiter hat keinen Kopf.
Ich sitze auf der Schwelle, meinem Lieblingsplatz und sehe dem Leben beim Leben zu. Um mich herum der Garten, dessen Pfade sich verzweigen. „Die Zeit verzweigt sich beständig zahllosen Zukünften entgegen“ .(Jorge Luis Borges) Durch sonderbare Zufälle begegnet mir dieser Garten in einem Buch von W.G. Sebald, dann finde ich ihn bei Gerhard Roth in Venedig und dann lese ich endlich die ganze Geschichte bei J.L. Borges. Und dann lande ich in Tlön, einer Art Zusammenfassung philosophischer Schulen, einem Labyrinth voller Rätsel und Geheimnisse.
„Eine der Schulen von Tlön kommt zur Leugnung der Zeit … daß die Gegenwart undefinierbar sei, daß die Zukunft nur als gegenwärtige Hoffnung Wirklichkeit habe, daß die Vergangenheit nur als gegenwärtige Erinnerung Wirklichkeit habe…“
Die Metaphysiker auf Tlön suchen nicht die Wahrheit, nicht einmal die Wahrscheinlichkeit. Sie suchen das Erstaunen.“ (Borges)
Die Leugnung der Zeit in Tlön, einem von Menschen entworfenen Labyrinth, dessen Sinn darin besteht, daß es von Menschen enträtselt wird.
Der Weg führt weiter zu „Urn Burial“ von Thomas Browne zu einem imaginären Museum, ob es da Verbindung gibt nach Tlön … surreal und zu seltsam, um sich nicht darin zu verlieren. Noch bin ich auf der Suche … es gab im Radio mal ein Hörspiel darüber. Seltsame Welten. In Tlön gibt es eine Geometrie, die keine Parallelen kennt, der Mensch, der sich fortbewegt, verändert die Formen seiner Umgebung … die Dinge verdoppeln sich, so sagt eine der Schulen von Tlön und sie neigen dazu, undeutlich zu werden, wenn die Leute sie vergessen. Eine Türschwelle dauert an, solange ein Bettler sie aufsucht, nach seinem Tod wird sie nicht mehr gesehen.
Man kann sich verirren in solchen Texten, in solchen Gedanken, ich gehe leicht verloren in diesen fremden Welten, manchmal macht es mir Angst, aber oft mag ich dieses Gefühl vom Nichtdasein im Dasein.
Neben meinem Bett schimmert ein kleiner goldener Stern im Mondenlicht. Lange schon ist er aus irgendeinem Weihnachten heraus auf den Boden gefallen. Ich lasse ihn dort liegen, ich schlafe gerne neben einem herabgesegelten Stern, der noch glänzt. Wie oft habe ich wohl in diesem Leben nach Sternen gegriffen, die auf dem Flug zur Erde alle verglüht sind und nur ein kleines Häuflein Asche hinterlassen haben. Am offenen Fenster schwimmt der volle Mond vorbei. Im Medizinrad heißt er „Der Mond der kraftvollen Sonne“. Ab morgen wird er abnehmen und nach einer kleinen Dunkelheit zum „Mond der reifenden Beeren“ wieder anschwellen zu meinem Löwenmond. Und dann werde ich 70 Jahre alt.
Ein Leben geht dem Ende zu … aber tut es das nicht schon ab der Geburt?
Noch immer verwahre ich im alten Bauernkasten die weißen Leintücher als Tischdecken für die großen Feste hier am Hof, ob es denn jemals wieder so eine fröhliche laute Musiknacht geben wird, wie ich sie liebe, einen Sommernachts – Maskenball mit vielen Gästen, die tanzen und durcheinanderreden und lachen und essen und trinken …? Im Moment schaut es nicht so aus, die Coronazahlen steigen, viele Leute sind krank und wo sind all die Freunde und Freundinnen geblieben?
Diese alten Tücher, ich werde sie weiter aufheben, jedes einzelne Leintuch ist alt und mehrfach geflickt, mehr oder weniger kunstvoll … man sieht jede Verletzung und vor allem die Versuche, das, was unvermeidlich war, wieder auszubessern, anzustückeln, herauszuschneiden das, was zu brüchig wurde und was Festeres einzusetzen … manch eine Naht hat nicht gehalten … ich hab ein zärtliches Gefühl für diese alten Stoffe.
Ich zeichne Linien um Linien, vermesse mein Leben in Linien, die sich immer wieder zu Spiralen drehen und im Hintergrund zu Zacken werden. Wir sind nicht da, wo wir zu sein scheinen, denkt es in mir, aber woanders auch nicht. Ein paar lose Gedanken sind wir, an denen ein wenig Fleisch hängt, manchmal lachen wir, manchmal weinen wir, wir lieben und führen Krieg und vermehren uns ständig in großer Zahl, um uns dann wieder zu töten.
Wir glimmen kurz auf in diesem Leben und dann verlöschen wir.
Ich, die Margarete, die mit dem Drachen tanzt, deren Heimat die Schwelle ist, werde Willkommen zu der Alten sagen, die sich mir nähert und sie mit großer Zärtlichkeit empfangen.