Archiv für den Monat: Dezember 2020

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 9

In ganz Bayern ist der Katastrophenfall eingetreten und es gibt Bestimmungen, die mir höchst sinnvoll erscheinen. Und ich halte mich daran. Einen kleinen Umweg mit dem Auto gestatte ich mir heute und fahre ein wenig übers Land , alles ist grau in grau, weder ganz hell, noch ganz dunkel, verbröselter Schnee liegt auf den Bäumen. In der kleinen Kapelle am Straßenrand flackern ein paar müde LED – Kerzen, trotzdem ist es finster wie im Wald dahinter. Aus dem Wald heraus über die Hochebene an der Autobahn entlang stehen die Gehöfte und diverse Häuslichkeiten einzeln oder in Gruppen angesiedelt. So mag ich das Land gerne, es hat nichts, aber auch gar nichts mehr von dieser Anmache vom schönen Bayernland. Nichts ist mehr schmuck und verhübscht, keine Blumenberge mehr, hinter denen sich die Häuser wie hinter einem Mundschutz verstecken. Jetzt, an einem grauen Wintertag stehen sie da, nackt und bloß und alles zeigt sein wahres Gesicht. Ich mag das Land, wenn es zu Ehrlichkeit verdammt ist, wenn es die Kehrseite der oberbayrischen Idylle zeigt, die Wunden, die der Wohlstand in den Boden schlägt, die Scheußlichkeit der Neubauten, die sich „alpenländisch“ geben und viel Geld gekostet haben. Die Kehrseite der Medaille … backstage, sozusagen … die fehlenden Seiten der Hochglanzprospekte über „unser schönes Bayernland.“

Die Autobahn ist überraschend voll in Richtung Salzburg. Auf einem Zaunpfahl sitzt ein Bussard und schaut  in die Richtung, in die ich fahre. Der Föhn bricht langsam zusammen, die Salzburger Berge sind hinter Nebeln verschwunden. Ein wenig Schnee liegt hier oben und ich werde plötzlich berührt von einem Gefühl, das es nur im Advent gibt. Ich weiß nicht genau, was es ist, deshalb nenne ich es das Weihnachtsgeheimnis. Einer, dessen Poesie ich sehr schätze, hat vor kurzem über Engel und ihre Verbindung zum Schnee geschrieben, ich sollte ihn um den genauen Wortlaut nochmals bitten … da flog er um mich herum, mit den Engeln und den Schneeflocken, dieser Zauber der Weihnacht.

Die eine Malerfreundin sagt, wir könnten doch zusammen Cocek tanzen, ich im Atelier und du daheim, bitte schick mir die Musik … ja, und dann tanzen wir tatsächlich alleine und doch zusammen solang, bis wir nicht mehr können. In meinem Tanzraum ist nicht geheizt, meine Nase ist kalt und die Füsse wie Eiszapfen, weil ich nur barfuß tanzen kann, aber dazwischen brenne ich vor Glück. Und die andere Malerfreundin meldet sich schon an zum gemeinsamen Tanzen, woimmer, wannimmer, wenn´s halt mal wieder möglich ist.

Also, wenn es mindestens sechs TänzerInnen gibt, dann können wir einen Kreis bilden, und für alle, die wissen wollen, wie der Schritt geht, gibt es ein Video mit Laura Shannon, da tanzen sie den Schritt, den ich auch tanze … naja, vielleicht ein wenig graugänsisch abgewandelt … und vor allem dann, wenn ihn alle können,  sehr viel schneller!

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 8

Mt einem dicken Packen geschriebener alter Ansichtskarten fahre ich zum Bahnhof in der Kreisstadt, um sie dort in den Autobriefkasten zu werfen. Auf halber Wegstrecke stand auf einer kleinen Wiese hinter einem Bauernhof  an der Bundesstraße seit Jahren ein Schimmel und graste. Oft stand er einfach so da und immer war er alleine. Bis vor wenigen Jahren hatte er einen Esel als Gefährten, aber der ist lange schon verschwunden. Er sah gut genährt und gepflegt aus, aber er war immer alleine. Seit letzter Woche ist der Zaun weg und der alte Schimmel auch. Die Leute sagten: ach, dem gehts gut, der ist hier eingestellt, weil der Besitzer keinen Platz hat. Ich habe seine Einsamkeit gespürt … gibt es die Einsamkeit der Pferde? Ein einzelner Esel wird krank vor Einsamkeit und stirbt. Der Schimmel hat viele Jahre duchgehalten, jetzt ist er weg und so leer ist die Wiese ohne ihn.

Weiter südwestwärts am äußeren Rand der 10km Luftlinie steht auf einem bewaldeten Hügel eine kleine uralte Kirche, gebaut auf romanischen Mauern und dem Hl.Georg geweiht. Lange vor dem Bau der Kirche soll dort, laut einer mündlich überlieferten Sage, in einem heiligen Hain ein einzelner Schimmel gestanden haben. Er konnte sprechen und die Menschen sind hinaufgegangen, um sich von ihm Wahr sagen zu lassen. Um hinaufzukommen, musste man sehr gefährliche Niederungen durchqueren … die Schinderhölle und dann noch die Höllgasse … alle möglichen Unholde trieben dort ihr Wesen. Dort oben ist nicht nur die Aussicht über den Chiemsee bemerkenswert. Lange kann ich mich dort  nie aufhalten, eine verwirrende Unruhe , die ich nicht beschreiben kann,  gibt mir Rätsel auf und ich gehe meist mit viel mehr Fragen als Antworten wieder den Berg hinunter.

Ein Brief von Rilke fällt mir ein, an den mich eine liebe Freundin erinnert hat: „… leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein …“

Daheim lege ich die Musik auf, die meine Füsse fast von alleine tanzen läßt, meinen Lieblingstanz, den Cocek. Ein uralter Tanz, man sagt, Romafrauen hätten ihn bewahrt und durch die Jahrhunderte weitergetragen. Es gibt unendlich viele Variationen, ich tanze einen sehr einfachen Schritt. Liebend gerne möchte ich ihn mal wieder im Kreis tanzen können, zusammen, gemeinsam mit Menschen, die den Mut haben, sich an den Händen zu halten. Eines Tages wird das wieder möglich sein, ich glaube fest daran und wir treffen uns irgendwo und die Musik beginnt und wir gehen los … nach rechts, nach links und zur Mitte … und jetzt spielt eins meiner Lieblingslieder und ich werde solang tanzen, bis ich über das ganze Gesicht lache vor Lebensfreude … und ich tanze alleine mit allem, was so ist, die Fragen, die Angst, die Liebe und die Sehnsucht und die Dankbarkeit für Freundschaften, die mich durchs Leben begleiten… und ich tanze mit dem wilden Volk der Viren und der wilden Jagd der Percht…

Und ich kann die Sprache des Liedes nicht verstehen, aber ich bin sicher, daß es da um nichts anderes geht. Der Titel des Liedes und der  Name der Band ist :

Parno Graszt und das heißt: Weißes Pferd!

Kommt schnell, reicht mir Eure Hände …hopphopp laßt uns tanzen, damit wir nicht verlorengehen!!!

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 6

Wir gehen „für Gangsteig“, so heißt der alte Weg nach Osten ins Dorf, zur Schule, zur Kirche. Meine Freundin Irm besucht mich, wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Normalerweise würden wir jetzt ein paar Kannen Tee trinken am Tisch in der Stube und uns reden lassen. Da dies nicht möglich ist, gehen wir halt ein Stückerl spazieren, ziemlich nah nebeneinander, mit Mundschutz und mit extremer Freude über das Zusammensein. Zwischendurch bleiben wir stehen, um ein wenig Luft in die Maske zu holen und zu lachen. Es gibt viel zu erzählen, was halt grad so anfällt im Leben und daß wir irgendwann mal wieder auf die Autobahn müssen, nachts losfahren und frühstücken im Nirgendwo, Freiheit spüren, Wind um die Nase wehen lassen … und wenn wir Mitte des nächsten Jahres noch nicht geimpft sind, egal, dann fahren wir halt mit Mundschutz.

An den Totenbrettern kommen wir vorbei, sie sind schon ziemlich alt, den Zacherlbauern, der einzige, dessen Namen man noch lesen kann, kannte ich nicht mehr. Die Namen der Schwestern vom alten, auch längst verstorbenen Nachbarn, die der jungen Bäuerin das Leben schwergemacht haben, sind auch lange verschwunden. Richtig böse Schreckschrauben sollen sie gewesen sein, so hat das mein Vater erzählt, beide nicht verheiratet und haben im Haus das Regiment geführt, die eingeheiratete Bäuerin durfte nichts bestimmen, sie war wohl nur für die Feldarbeit da usw. Mir stellen sich da schon Fragen, aber niemand kann mehr antworten, alle längst zu Staub zerfallen und vom Wind weggeweht. Ganz früher hat man die Toten auf diesen Brettern aufgebahrt und nach dem Begräbnis wurden die Bretter als Andenken am Wegesrand aufgestellt. Mancherorts wurde gesagt, wenn die Bretter eines Tages von Wind und Wetter so zerstört wären, daß man nichts mehr von ihnen sieht, dann wären die Seelen erlöst. Und es soll auch manchmal „umgegangen“ sein, das ist, wenn eine Seele keine Ruhe findet und herumwandert. Ich bin früher oft auf diesem Weg zu meiner Schulfreundin. Nie hatte ich Angst, bis zu der Geschichte, die die Frau Kittl erzählt hat. Das war eine weitschichtige Tante meiner Freundin, die im Winter am Hof gelebt hat und bei Näharbeiten half. Wir haben sie immer so lang angebettelt, bis sie eine ihrer Schauergeschichten erzählt hat. Und nach dieser Geschichte , in der ein großer dunkler Mann an den Totenbrettern wartet und mit jedem nachts mitgeht, der vorüberkommt … seit damals gehe(laufe) ich abends nur mit Schaudern an den Brettern vorüber.

 

 

 

Unterm Gesträuch fast unsichtbar verborgen, steht die kleine Madonna, vor Jahren hat sie die alte Nachbarin dort hingestellt. In liebender Verbundenheit gelingt Mutter und Kind lächelnd der Ausgleich der Kräfte.

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 5

Ich backe Apfelkuchen und aus dem Rest des Germteigs (Germ/Hefe) kleine runde Küchlein … Ofakindln heißen sie bei uns, die Kinder des Ofens, die in der Wärme ausgebacken werden. Sie dürfen werden, wie sie wollen, sind an keine Form gebunden, wie kleine gute Geister sind sie.

 

Bevor jetzt bald der Schnee kommt, bin ich heute noch zum Hügel gegangen, und dort, wo sich der Weg gabelt, rechts steil  hinauf. Da oben war immer ein Lieblingsort von mir und eines Tages stand ich da im Licht der Abendsonne, da knackte es leise im Unterholz und gemächlich tauchte ein Dachs auf, ging langsam und vor sich hinschnaufend ganz nah an mir vorbei und hinunter zum Bach. Ein Augenblick, unendlich wie die Ewigkeit, ein Moment vollkommener Harmonie.

Kurze Zeit später haben sie dann den Hügel zwischen den Wegen komplett abgeholzt, alle uralten Buchen umgeworfen. Und als ich Wochen später wieder hinaufgehen wollte, da hatte ich diese Begegnung mit dem Zwerg im Berg, zornig zischte er mich an: Mensch, hau bloß ab!

Nein, nicht wirklich … aber wer weiß das schon, wann die Wirklichkeit wirklich ist und wann nicht … wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Heute war alles ruhig, der Zwerg ist ausgewandert oder tief drin im Hügel.

 

Beim Heimkommen sagt es vom Apfelbaum herüber: Meine Haut wird immer dünner, je älter ich werde …

Geht mir auch so, sage ich.

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 4

Es gibt da so eine Stelle auf der Bundesstraße, ca. 4 km von daheim, wenn ich dort angelangt bin, überflutet mich das Glück. Das war immer so und wird auch so bleiben. Wenn ich das langgestreckte Tal verlasse, dann öffnet sich das Land und gibt den Blick frei … und dann sehe ich ihn, er steht da, ein Klotz von einem Berg, wächst einfach so aus der Ebene heraus, der Untersberg, und dann bin ich glücklich. Heute färbt ihn der Föhn dunkelblau, es liegt noch kein Schnee auf seinem Rücken. Es ist immer dasselbe, diese Freude, ihn zu sehen. Den Versuch, ihn zu fotografieren, gebe ich auf, auf dem Bild ist er etwas anderes, als der er ist.

Ich werde ihn wahrscheinlich auch nicht mehr besteigen. Früheres Ergehen seiner Gipfel führten zu einem ähnlichen Gefühl, wenn ich oben auf ihm stehe ist er nicht mehr der Berg, der er ist. Ich glaube, die Ehrfurcht vor der Würde des Steins kann man nur unten zeigen, indem man zu ihm hinaufschaut.

Viele Sagen erzählen von starken Kräften in seinem Inneren und jährlich rennen tausende Menschen auf ihm herum,  um in Besitz dieser Kräfte zu kommen, und nur die klugen erkennen irgendwann, daß wir nie was anderes vorfinden, als das, was wir mitbringen, und daß wir nur beschenkt werden, wenn wir selber schenken. Und letztendlich sagen alle alten Geschichten dasselbe: denen, die reinen Herzens sind, wird geholfen.

Wenn ich nach ein paar km ihn so dastehen sehe, bin ich einfach nur glücklich.

 

24 T. – Erkundungen der fernen Nähe … Tag 2

Ein paar hundert Meter vom alten Haus in Richtung Südosten führt der Weg durch ein kleines Wäldchen, überquert den Bach und schlängelt sich den Hügel hinauf. Am Bachrand stehen 13 Eichen und an einer gewissen Stelle ist ein Ort, den ich den Platz der Wilden Frauen nenne, dort gehe ich hin, wenn ich Antworten auf Fragen in mir suche.

Was mache ich da, frage ich heute, was erwarte ich mir von den nächsten 20 Tagen, was will ich finden … was suche ich denn überhaupt, auf diesen 10 km um mein Heimathaus herum … wo soll ich beginnen … ich hatte da wieder mal eine Idee, nein, mehr noch einen Traum … und jetzt, wo es an die Umsetzung geht, habe ich keinen Plan … es werden dunkle Geschichten, denke ich, auch jetzt dämmert es, die blaue Stunde beginnt. Wo soll ich beginnen, wie „bereist“ man 10 km Heimat? Ich werde auf den Spuren meines Lebens gehen … was habe ich mir da nur wieder Unmögliches ausgedacht. Zwischen den Eichen sehe ich langsam im Nebel verschwimmend den Holzstadel, der früher für die Weidetiere einen Unterschlupf bei Wind und Wetter bot, heute ist er abgesperrt, der Bauer läßt die Tiere nicht mehr hinein. An der Holzwand steht auf einem Schild zu lesen : Schöller, königl. bayr. Bezirksgericht.

Vor langer Zeit stand da ein Bauerngütl, und die Leute waren so arm, daß die KInder auch im Winter barfuß laufen mußten, so erzählte es mir meine Großmutter. Heute weiß niemand mehr was von ihnen … ein Ort, den man Lost Place nennen könnte. Steinplatten liegen im Boden eingelassen, da, wo mal das Haus war. Bis vor ein paar Jahren stand noch ein uralter Zwetschgenbaum dort, den hat der jetzige Grundbesitzer eines Tages abgehackt. Und den ehrwürdigen Nußbaum am Wegesrand habe ich oft besucht, mich an seinen dicken Stamm gelehnt und ihm am Ende des Winters Rilkes Gedicht vom Vorfrühling aufgesagt, und bei der Stelle … „des alten Nußbaums rühmliche Gestaltung füllt sich mit Zukunft“ … da bekam ich immer nasse Augen, weil ich meinte, seine Freude zu spüren. Eines Tages hat ihn der Sturm hinweggefegt. Alles verloren und dennoch liegt die Spur einer alten Geschichte über dem Ort … zurückgehend durch das kleine Wäldchen fällt mir ein Ereignis ein, das ein paar Jahre zurückliegt. Ein paar Freundinnen hatten sich in die Haltung des „Bärengeistes“ begeben, einer uralten Figurine, und wir erforschten die rituellen Haltungen nach F. Goodman. Ich hatte die Aufgabe, mit der Rassel für Orientierung und Sicherheit auf der Reise zu sorgen und alle wieder zurückzuführen. Es war eine klare Nacht, der Vollmond stand direkt über uns. Ich war sehr wachsam und hielt die Augen und Ohren offen. Dann kam langsam eine Nebelzunge den Hügel herunter, umschlängelte  uns in einer Spirale und verschwand im Wald. Niemand außer mir hatte etwas bemerkt, so sanft und zart war diese  Begegnung.

Frau Percht kommt aus den Bergen und reist übers Land und ich lasse mich treiben mit ihrer wilden Entourage, wir fliegen durch Zeiten und Räume einer heiligen Dunkelheit.