Archiv für den Tag: 6. Dezember 2019

24T.-Mutmaßungen über das Fremde,Tag6

Unten auf der Straße ziehen zwei Autos aneinander vorbei. Die weißen Scheinwerfer und die roten Rücklichter nähern sich, treffen sich und lösen sich bereits einen winzigen Augenblick später wieder voneinander, bringen immer mehr Raum zwischen sich, wie ein Sturz ins Dunkel nach links rechts, dann Finsternis.

Beda Venerabilis, ein angelsächsischer Mönch, verglich im 8. Jahrhundert n. Chr. das menschliche Leben mit dem Flug eines Spatzen, der in den Winterstürmen die vom Feuer erhellte Halle des Königs durcheilt. Er kommt durch ein Fenster aus der Dunkelheit herein und stürzt nach wenigen Augenblicken durch ein zweites wieder hinaus in die Ungewissheit. „So erscheint dieses Leben der Menschen als sehr kurze Zeit; was aber folgt und was vorausgeht, das wissen wir überhaupt nicht.“ Beda zielt damit auf die Heilsgewissheit des christlichen Glaubens, der nämlich Auskunft gibt über das Davor und das Danach dieses Wimpernschlags in der kosmischen Geschichte.

Für mich trägt Advent, die „Ankunft“ des Herrn, kein Heilsversprechen. Es ist mir fremd. Trotzdem liebe ich es seit Jahren, die Vorweihnachtszeit zu würdigen und zu einem Abend zu laden mit Kerzenschein und Lesungen. „Marley was as dead as a doornail“ gehört immer dazu – wie sollte man die Vorweihnachtszeit denn auch literarisch feiern, wenn nicht mit Charles Dickens –, auch eigene Texte oder ein Kapitel aus Ransmayrs „Atlas eines ängstlichen Mannes“. Immer in der engsten Auswahl (auch zur Freude manchen Gastes und alten Freundes) ist aber auch eine Kurzgeschichte aus Ray Bradburys „Illustriertem Mann“. Diese, „Das Kaleidoskop“, ist eine ungeheuer traurige und doch schöne Geschichte. Ein Raumschiff wird durch einen Asteroiden zerstört, die Besatzung in ihren Raumanzügen hinausgeschleudert in die schwarze Kälte des Weltraums, mit begrenztem Sauerstoffvorrat und nur noch über Funk miteinander verbunden, bis sie immer weiter auseinandertreiben und die Stimmen abreißen und jeder allein in der größten anzunehmenden Einsamkeit in den Tod rast. „Gibt es irgendetwas“, fragt sich Raumfahrer Hollis auf seinem Sturz, „das ich jetzt noch tun kann, um für ein schreckliches und leeres Leben zu büßen?“ Aber er ist ja allein in der Weite des Alls, „und wie soll man ganz allein Gutes tun?“ Und doch, da ist etwas …

Dieses Jahr habe ich mich verabschiedet von dem Wunsch, einen Vorweihnachtsabend auszurichten. Unser Kind bringt eine mächtige Umverlagerung aller Kräfte mit sich, wie es alle Eltern erfahren. Manches, was mir vertraut war, ja unabdingbar schien an meinem Leben, wird mir fremd. Anderes, was einst fremd und unbegreiflich, eigne ich mir zu Meinem an.

Und so stürze auch ich weiter durch den endlichen Zeitstrahl meiner Existenz, wie die Lichter des Autos unten im Tal, wie der Sperling in der königlichen Halle, wie Hollis in seinem Todesflug im Funkeln ferner Galaxien, und doch nicht allein.

 

Gastbeitrag: Zeilentiger