Archiv für den Tag: 9. Oktober 2017

Es ist Herbst

„Ja, der Wolf gefährdet die Freilandhaltung in der Landwirtschaft, diesen Rückschritt sollten wir nicht riskieren!“ Das bayrische Fernsehen läßt einen oberbayrischen Bauern dieses Statement unhinterfragt und widerspruchslos mit ernster Miene aus dem Bildschirm erbringen. Im Rahmen der Berichterstattung zur Demonstration des lebendigen Brauchtums bezüglich Erntedank marschieren ganze Hundertschaften, herausgeputzt im garantiert ursprünglich echten Festtagstrachtengewand in Begleitung von Blasmusik und geistlichen Herren auf die Kirche zu, um zu segnen, dem lieben Gott und  seinem Personal von Lagerhaus und Aldi zu danken für die aufgetürmten, von fleissigen Frauenhänden kunstvoll arrangierten  Gaben, denn ich wüsste nicht, welche Bäuerin noch einen Kartoffelacker oder Krautgarten bewirtschaftet oder gar eine selbstgemachte Butter hätte … die wunderschön arrangierten Kornähren wurden noch vor dem Mähdrescher abgeschnitten, das was keinen guten Preis macht auf dem Feld, wandert in die Biogasanlage, dort wird … UnsertäglichesBrotgibunsallen … gewinnbringender vermarktet, weil verbrannt.

Und mittenhinein in die Dankesfeierlichkeiten kommt die Nachricht, es wären fünf Wölfe abgängig, einer sei schon vom Zug überfahren worden, ein weiterer abgeschossen und selbstverständlich sind die weiteren zum Abschuß freigegeben, außer, sie würden sich bereitwillig fangen lassen. Ja, und diese drei Graubärte sorgen jetzt für große Aufregung. Wenn ich mir überlege, wo im Umkreis von fünfzig km noch Bauernhöfe sind, auf denen tatsächlich Tiere frei herumlaufen, kommt das einer Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen nahe, aber egal, der Wolf muß weg, denn die Rehe mag der Jäger selber schießen. In welch einem Land leb ich eigentlich, sind das wirklich meine sogenannten „Landsleute“? Gehör ich da dazu? Das frag ich mich oft. Manchmal sage ich: ich bin keine von euch, auch wenn wir die Sprache teilen. Manchmal ist das Daheim fremder als die Fremde.

Der Sommer ist heiß und macht Versprechen, die er nicht halten kann, er altert plötzlich über Nacht und geht in die Knie. Kübelweise läuft durch die Birken gelbe Farbe, tropft von den Blättern, rinnt am Stamm hinunter und versickert im Boden.

Ich möchte schnell die Stiege hinauf und schlage mir die rechte große Zehe so an der Stufe an, daß der Nagel abreißt. Das Gehen wird mühsam, ich muß mich umgewöhnen und den ersten Schritt immer mit links machen … der Schwerpunkt muß links sein … ein kleines Gegengewicht zum Rechtsruck in diesem Land … mein Vater war  ein überzeugter „Sozi“, genauso sein Freund, unser Hausmaurer, der immer sagte: „Ich bin ein Arbeiter und Arbeiter wählen die Sozis und da gehört auch dazu, daß man sie wählt, wenn es ihnen nicht gut geht, dann erst recht! Da ist was dran.

Alte Dokumente kommen zum Vorschein, eine Urkunde auf den Namen meines Ururgroßvaters zum Kauf des Hofes, Schuldscheine, der höchste beträgt 1000.-Reichsmark, eine Unsumme damals, es war unmöglich, soviel Geld jemals zurückzubezahlen … sehr arm waren sie, meine Vorväter, die Gütler … der Hof, ein „Sacherl“ … oder in Schriftdeutsch: „Gütel“.

Ich finde ein Schriftstück zu einer Kriegs – Denkmünze von „erbeuteter Kanonen – Bronze für Kombattanten  in Anerkennung von pflichtgetreuer Theilnahme am siegreichen Feldzuge 1870-1871 im Regiment von Prinz Luitpold “ … Auf Befehl seiner Majestät des Kaisers und Königs … ein „Unterkanonier“ war er wohl der Urgroßvater, zu mehr werden es so arme kleine Bauern auch kaum gebracht haben … Ich scheue immer ein wenig davor zurück, all die Papiere anzusehen, zu groß wird mir die vererbte Verantwortung. Eine abgrundtiefe Hoffnungslosigkeit , auch durch lebenslange Schufterei und Plagen niemals aus der Armut herauszukommen, steigt aus den ganzen brüchigen Papieren auf und greift mit kalten Fingern nach mir.

Es regnet. Es ist kühl. Es ist Herbst.

Die Äpfel, in großer Mühe und mit Kreuzweh aufgesammelt, gären vor sich hin und werden zu köstlichem Most, um ihn zu trinken und zu plaudern und zu scherzen, werden wir liebe Gäste einladen und mit ihnen um den Stubentisch herumsitzen. Eines Tages im Herbst stelle ich mir immer die gleiche Frage:  … wen würde ich anrufen, wenn ich mitten in der Nacht  irgendwo in große Not geriete? Wer würde kommen, auf wen kann ich zählen, wer würde wohl sagen: “ Ach, das tut mir  jetzt so leid, sonst immer gern, aber weißt Du, ausgerechnet heute … “ Diese Frage ist nicht ganz ungefährlich, zeigt sie doch manchmal ganz unerwartete Möglichkeiten und den „Stand der Dinge“ in Beziehungen. Selbstverständlich würde ich eh niemanden anrufen, aber bei wem würde ich mich trauen, mich zuzumuten in großer Angst und Schwäche … ? Es sind nicht viele, die dieser Frage standhalten und immer wieder bin ich überrascht, wer es ist.

Es ist Herbst, manches ist nicht mehr möglich, aber immer noch dreht sich das Karussell und ein paar Runden sind schon noch drin.

Das Glück ist eine Entscheidung.