Archiv für den Tag: 17. Dezember 2016

T.17 der Mutmaßungen über die L.i.e.b.e.

Die Dunkelheit dringt durch die Fensterscheiben und füllt die Stube des alten Hauses. Ich zünde eine Kerze an, bleibe einfach sitzen und schaue so vor mich hin.

 

Das Kind ist noch ziemlich klein, so drei, vier Jahre alt, da kommen die Eltern eines Tages heim und bringen eine kleine rotkarierte Decke mit. Und weil der Stoff so weich und warm ist, breitet ihn die Mutter über das Kissen und von nun an darf das Kind jede Nacht mit seinem Kopf darauf liegen. Das Kind und diese warme rote Weichheit verschmelzen miteinander und werden ein einziges glückliches Spüren. Eins ohne das andere sind nicht mehr vorstellbar.

Eines abends, ein paar Wochen vor Weihnachten, ist das Kopfkissen leer.

Das Kind ist irritiert, will seine Schlafdecke, bekommt auf seine Fragen immer nur die Antwort, das Christkind hätte die Decke mitgenommen und würde sie an Weihnachten wieder bringen und es würde Augen machen, wie schön die Decke dann wäre…

Das Kind versteht die Mutter nicht, trauert um die verschwundene Weichheit, schläft mit schwerem Herzen  ein und wartet sehnsüchtig auf Weihnachten, weil ihm da ja das Christkind das Liebste, was es hat, wiederbringen wird.

Dann endlich kommt der Hl. Abend und die Tür geht auf…das Kind läuft lachend und voller Freude auf den Christbaum zu, unter dem seine geliebte Decke liegt…wie wundervoll doch die Farbe leuchtet. Aber als es danach greift und sie ans Herz drückt, da merkt es, daß etwas nicht stimmt, es fühlt sich anders an als früher…

Aus der Decke ist eine Winterjacke geworden.

Alle sagen, welch schöne Jacke das geworden sei und wie sie das Kind wärmen wird und es solle sich doch freuen!

Das Kind merkt sofort, daß ihm etwas gestohlen wurde, das es nie wieder zurückbekommen kann, es spürt zum ersten Mal den Verlust in seiner unwiderruflichen Schärfe und die ohnmächtig machende Verzweiflung über diesen Verrat seines tiefsten Vertrauens…ein Spalt tut sich auf, da hinein droht es zu stürzen, schier erstickend vor Schreikrämpfen und der immerwährend gestellten Frage:  Warum ?

Es nützt alles nichts, die weiche rote Decke kommt nicht wieder.

Es leidet lange lange unter dem Verlust, läßt sich die Jacke nicht anziehen und auch der Versuch, sie aufs Kopfkissen zu legen, scheitert kläglich, nie wird es wieder so sein wie früher.

Jetzt, sechzig Jahre später,  sitze ich  hier und spüre ihn immer noch, den Verrat an meiner Kinderseele. Soviel Zeit ist vergangen seitdem. Natürlich weiß ich, daß meine Eltern kein Geld hatten und deshalb musste halt damals dieser Stoff herhalten, damit ich ein Geschenk hatte vom Christkind.

Ja, und ich habe ihnen verziehen, sie haben es nicht gemerkt, daß sie mit dem Willen ihres Kindes etwas zerbrochen haben, was vorher unerschütterlich schien, dieses grenzenlose Vertrauen in die Zuneigung und das Wohlwollen eines Menschen.

Ich glaube nicht, daß ich ein mißtrauischer Mensch geworden bin und doch, in einer hintersten Nische meines Selbst sitzt diese kleine Unsicherheit, die mich manchmal auch die vertrautesten Menschen fragen läßt: Magst Du mich wirklich? Auch wenn ich nur ich bin und nichts dafür leiste? Und wirst Du mich womöglich gleich vergessen, wenn ich mich mal nicht melde?

Ach, meine kostbare Kinderseele, ich werde Dich beschützen und behüten und wir werden uns in eine rote weiche Decke schmiegen und Du darfst mir vertrauen, ich mache keine Jacke daraus.

Draußen brennt eine rote Kerze in der Laterne für alle Seelen, die sich manchmal etwas verloren fühlen.