Archiv für den Tag: 2. Dezember 2016

T.2 der Mutmaßungen über die L.i.e.b.e.

Obwohl es schon Anfang Dezember ist, sitzt sie draussen vor der Raststätte an der Salzburger Autobahn in der Sonne und lehnt mit dem Rücken an der warmen Wand.

Sie liebt diese Orte des „Dazwischen“, ein kurzer Stopp in der Bewegung, ein wenig Innehalten bevor es weitergeht auf der Straße…eine Art Niemandsland für Gestrandete. Den Kaffee trinken, den Blick auf die Berge gerichtet, dahinter den Süden ahnend, das Meer…und wenn die Sehnsucht kommt, die Augen schließen und ein wenig dahindämmern, im Ohr die Stimmen und Geräusche der Menschen, die kommen und gehen.

Vor ein paar Jahren war sie hier schon mal gesessen, in der Wärme eines Herbstabends, müde von der Fahrt und von ein paar schweren Gedanken und sah der Sonne zu, die in Zeitlupe hinter den Bergen verschwand. Es saßen nur mehr wenige Menschen hier draussen, bald würde es abkühlen. Anscheinend hatte sie geschlafen, denn als sie die Augen aufschlug, war es dunkel und kühl und noch bevor sie überlegen konnte, woher dieser leise Geruch nach Orangen…nein, eher Grapefruit kam, bemerkte sie die Hand auf ihrer rechten Brust. Sie lag einfach nur ruhig da, diese ziemlich große Hand, gebräunt und die Fingernägel sehr kurz geschnitten und neben dieser Hand, irgendwo zwischen Schulter und Brust lag ein Kopf. Das Gesicht konnte sie nicht gut erkennen, sie sah nur sehr sorgfältig gescheitelte braune Haare, …und sie sah auf ihrer Bluse den Fleck, den ein dünner Speichelfaden hinterließ. Dieser angenehm warme und würzige Geruch…sie wagte es nicht, sich zu bewegen, um den Schlaf nicht zu stören.

Blaugrüne sehr müde Augen sahen sie an und eine leise Stimme sagte: “ Bitte verzeihen Sie, ich kann so lange schon nicht mehr schlafen, aber ich wusste, hier auf Ihrer Brust würde es gehen.“ Und dann lächelte ihr dieser schöne Mund entgegen und ihr Mund lächelte zurück und so saßen sie eine kleine unbestimmte Zeit und immer noch lag diese warme schöne Hand auf ihrer Brust.

Auch heute lächelt sie, weil sie diese Stimme im Ohr hat, die damals sagte: „Bitte kommen Sie mit mir,  wenn ich meinen Kopf auf ihre Brust legen darf, dann kann ich endlich wieder eine Nacht schlafen, ich weiß es sicher!“  Und sie hinterließ einen Zettel mit Namen und Zimmernummer und dann stand sie auf, diese schöne müde Frau und verschwand.

Sie bezahlt und dann bleibt sie noch ein wenig sitzen … wo sie wohl heute sein mag, die schlaflose Fremde? Und ihr ist fast, als spürte sie die große warme Hand, die so weich auf ihrer Brust lag und diese so müden Augen, deren Farbe ein Türkis hatte wie das Meer in der Bucht dieses kleinen Seeräuberdorfes auf dieser winzigen Insel…und dieser Geruch von Grapefruit, sie liebt ihn sehr seitdem, diesen Duft.

Sie ist damals nicht der Fremden aufs Zimmer gefolgt.

Schade eigentlich, denkt sie, als sie ins Auto einsteigt und weiterfährt.

Ja, sehr schade.