#20 „Ist die Schwarze Köchin da?“

Wenn am frühen Abend die Sonne immer goldener wird, bevor sie dann als roter Ball in den Chiemsee fällt, fahre ich meine immer gleiche Radlrunde durch den Wald, vorbei an Wiesen und Äckern. Lange schon ist das Korn geerntet … ist ein Schnitter, heißt der Tod … nur der Mais steht noch. Auf den meisten Feldern wurde alles Unkraut vernichtet, nur bei ein paar wenigen durften an den äußeren Rändern wilder Beifuß, Beinwell, Schafgarbe sich ansiedeln und eine Schlingpflanze an den Maisstangen der vorderen Reihen sich emporranken. Als Kinder sind wir im Spätsommer gerne zu den Getreidefeldern und haben die wilden Erbsen roh aus den Schoten gegessen. Unzählige davon wuchsen dort und rankten sich um die Getreidehalme. Das, was sich jetzt um den Mais schlingt, schaut genauso aus und ich bekomme die alte Kinderlust, die Schoten aufzubrechen. Aber ich wage es nicht, vieles ist nicht mehr das, was man meint, daß es ist. Während ich durch den warmen Herbstabend fahre, läuten die Kirchenglocken mit warmen angenehmen Klängen. Früher mußten die Dorfkinder beim Läuten heimgehen … Wo sind eigentlich die Kinder, frage ich mich, wenn ich durch das Dorf fahre. Nirgends ist eines zu sehen. Mein Kinderfreund und ich, wir spielten damals an diesen warmen Abenden stundenlang „Bäreneintreiben“, da mußte man mit einem Stock eine alte Blechbüchse in ein Loch am Boden hinein bugsieren und sich gegenseitig dabei behindern. Oder wir spielten „Ochs am Berg“ und wenn mehrere Kinder da waren, „Räuber und Gendarm“.  Wir spielten auch „Fürchtet ihr euch vorm Schwarzen Mann“, das habe ich nicht als lustiges Spiel in Erinnerung, wenn ich heute an den Text denke, läuft mir immer noch ein Schauder über den Rücken. „Fürchtet ihr euch vorm schwarzen Mann? Nein, nein, nein! Wenn er aber kommt? Dann laufen wir davon!“ Wir rannten schreiend auseinander, niemand wusste bis dahin, welches Kind der Schwarze Mann war, niemand wollte sich von ihm berühren, fangen lassen … wir rannten um unser Leben. Hatten wir sowas wie eine Ahnung, daß der Schwarze Mann der Tod war?

Als Ausgleich gab es „Die schwarze Köchin“, vor der wir uns versteckten unter einem der zahlreichen Hollerbüsche. Heute weiß ich, daß es in diesem Spiel um die Geschichte einer uralten schwarzen Göttin geht, zu deren Reich man durch einen Eingang im Hollerbusch gelangt. Der Holunder war einst so heilig, daß mein Großvater und alle übrigen Männer in seiner Nähe ihren Hut abnahmen. Und obwohl diese Schwarze Köchin im Spiel sich Kinder holte, hat sie uns nicht geängstigt und wir saßen kichernd husch, husch, husch im Hollerbusch. Seltsam, wie ausgestorben die Dörfer in der langen Sommerferienzeit sind. Was wohl die Kinder heute für Spiele spielen, vor allem: Wo spielen sie? Man begegnet ihnen nicht mehr irgendwo draußen. Ihr Lachen ist so unhörbar geworden. Es gibt sie, doch wo sind sie nur?

Vorhin wurde es auf der Bundesstraße laut, sehr laut. Schon wieder dieses Dröhnen und dann kommen sie, die Panzer und alles übrige auch, das große Besteck sozusagen, alles rumpelt durch das Tal mit grausigem Krawall. Und dann gehen plötzlich zwei kleine Mädchen mit langen, wippenden Pferdeschwänzen an unserem Haus vorbei. Sie schleppen einen großen Einkaufskorb in Richtung Wald und sind so sehr in ihr Gespräch vertieft, daß sie gar nichts um sich wahrzunehmen scheinen. Nach kurzer Zeit kommen sie wieder zurück, der Korb ist noch leer und die beiden sind immer noch ganz versunken in ihr Gespräch. Anscheinend haben sie sich Wichtigstes mitzuteilen, zwischendurch lachen sie kurz und dann wieder sind sie mit so einer ausschließlichen Ernsthaftigkeit in die Sache vertieft, wie nur Kinder das können.

Der Militärkrach auf der Straße ist leider so  laut, daß ich nicht verstehen kann, über was sie reden, sie hören sich aufmerksam zu  und schauen einander an, wenn sie sprechen. Gemeinsam schleppen sie den Korb, die kleinen Hände sind sich so nah wie ihre Herzen.

Wie schön das ist, eine Freundin zu haben, der man alles erzählen kann, egal wie laut der Krach ringsherum auch sein mag.

Und hier erzählt die Kraulquappe!

8 Gedanken zu „#20 „Ist die Schwarze Köchin da?“

    1. Das freut mich sehr, wenn Dir Bilder aus meinem Text zufliegen, besser könnt ich mir´s nicht wünschen, liebe Greta! Viele Grüße zu Dir!

  1. Ein schöner, ein wenig wehmütiger Text.
    Nichts bleibt. Das schon. Aber muss dabei fast alles plattgemacht werden? die Kräuter am Wegesrand? Spielende Kinder unter freiem Himmel?

    Eine Militärkolonne passt da gut ins Bild.

    Ich habe letzthin zwei Buben in einem Bach spielen sehen. Ein Trost, so eine Situation miterleben zu dürfen.

    1. Ja lieber Robert, so weit ist es mit uns gekommen, daß wir Trost empfinden, wenn wir ausnahmsweise mal zwei Buben im Bach spielen sehen! Ich fürchte, viele Kinder kennen den Bach hinterm Haus gar nicht mehr,
      es wird ihnen eingeredet, daß sie arm sind, wenn sie nicht in Urlaub fliegen können. Ich bin der Meinung, sie sind arm, weil sie nicht mehr hierzulande verbotenerweise Bäche stauen, in Dreckpfützen springen, mit dem Fahrrad ohne Strom irgendwo in der Kiesgrube herumsausen, Abenteurbücher lesen, heiße Kartoffeln aus der Lagerfeuerglut essen oder, welch eine Gnade … sich mal unendlich langweilen dürfen. Liebe Grüße vom Nordrand der Alpen!

      1. so ist es, die früheren ausnahmen werden zur norm erhoben, und zu viele machen mit. wehmütig erinnere ich mich, aber ich bin auch froh, dass zwei meiner drei enkelkinder noch das ewige spiel in wald und bach und feld kennengelernt haben. die dritte enkelin lebt in der stadt, da wird der unnütze rasen vom hausmeister bewacht. zum glück fanden auch da die kinder ihre ecken, bis er kam und schrie…

  2. Räuber und Gendarm war unser Lieblingsspiel. Aber ich habe keine Ahnung mehr, wie das Spiel ging, wie die Regeln waren. Tennis, Schläger und Kanonen!? Aber dann lese ich auf Google: es ist praktisch nur eine Variante von Verstecken spielen. Nichts gegen Verstecken spielen. Verstecken spielen hat Spaß gemacht. Mache ich heute noch, wenn ich alleine bin und mich selber abklatschen muss, weil kein anderes Kind mehr da ist, das man finden könnte.

  3. Vor geraumer Zeit las ich, dass das Spiel „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“ wohl ursprünglich gar nichts mit PoC Menschen zu tun hat sondern seinen Ursprung im „schwarzen Tod“, also der Pest hat. Ich fand das gar nicht so abwegig.
    Denn der Spielablauf, also das Fortrennen, ausweichen, sich nicht berühren lassen… bzw. wer berührt wird, darf nicht mehr mitspielen oder wechselt auf die Seite des „schwarzen Mannes“ ist schon als eine Allegorie auf die Pest und ihre Ausbreitung seinerzeit vorstellbar, als man noch wenig über diese Krankheit und ihre Verbreitung wusste.
    Ob das nun so ist oder nicht, weiß ich nicht. Es ist aber ein spannender Erklärungsansatz , oder?

  4. „….vieles ist nicht mehr das, was man meint, daß es ist…“
    Genau so ist es und das macht mich traurig.
    Neulich traf ich im Wald auf eine Gruppe Kinder, die unter der Aufsicht und Anleitung eines Erwachsenen „Schnitzeljagd“ spielten. Die „Schnitzel “ bestanden aus blinkendem Alu-Konfetti, das schreiend durch den Wald geworfen wurde.

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