#19 So schauts aus oder die Wahrhaftigkeit des Wurms

Völlig verfrüht fallen schon Äpfel von den Bäumen. Auch meine Lieblinge, die rotbackigen. Jeden einzelnen sammle ich auf. In manchen haben sich Gäste kunstvolle Ferienwohnungen gebaut mit geheimen Gängen, die sich labyrinthartig durch den Apfel schlängeln. Was für Kunstwerke doch so ein kleiner Wurm zustande bringt. Wenn ich im Vergleich dazu die baulichen Scheußlichkeiten sehe, die hierzulande entstehen, um dem Tourismus ein Oberbayern vorzugaukeln, das es gar nicht gibt … da ist mir die Wahrhaftigkeit des Wurms im Apfel viel lieber. Der erste Strudel ist immer ganz was besonderes, wurde sehnsüchtig erwartet und macht glücklich. Und ich staune immer wieder, was man aus Mehl, Wasser und im Höchstfall noch mit einem Ei, aber es geht auch ohne, und ein paar Falläpfeln für eine Köstlichkeit zaubern kann! Und ich empfinde große Dankbarkeit dafür, daß die Bäume trotz widrigster Wetterumstände ihre Gaben uns zum Geschenk machen.

Als ich den Einkaufsmarkt verlasse, bringt gerade die alte Frau den Chrysanthementopf aus ihrem Einkaufswagen zum Gestell mit den übrigen Blumen zurück und sucht einen anderen, schöneren aus für ihren Einkaufswagen. Ihr Mann hilft ihr dabei und versucht mit Engelsgeduld und großer Liebenswürdigkeit seine Frau zu einem Abschluß der Prozedur zu bewegen. Das tut er seit mindestens einer halben Stunde, denn als ich in den Laden hineinging, standen sie auch schon am Blumenständer. Wie aus der Zeit gefallen wirken die beiden, befasst mit der schier unlösbaren Aufgabe, sich inmitten von grenzenlosem Konsum zu einer Entscheidung durch zu quälen. Ich sitze da, desinfiziere meine Hände und sehe ihnen zu, wie sie langsam den Stein hinaufwälzen, der dann wieder hinunterfällt und das Ganze beginnt von Neuem, wie schon in uralter Geschichte erzählt. Nebenbei verlassen mit Billigfleisch zum Grillen vollbepackte Wägen den Markt, geschoben von Menschen in Badelatschen und viel zu kurzen Hosen und werden in SUV-Audi-BMW-Kofferräumen verstaut … eine Frau schreit ins Telefon, daß endlich mal jemand den Hund abholen müsse und daß ihr das jetzt scheißegal wäre … ein Mann ruft: Mutti, haben wir noch Butter? … die Mutti dreht sich um und geht leicht hinkend nochmal in den Markt. Der Mann geht einstweilen zum Auto und braucht all seine Kraft, die Heckklappe hoch zu bugsieren … ein kleiner alter Mann vor seinem riesigen Auto.

Die Benachrichtigung ist gekommen, morgen hole ich auf der Gemeinde die Wahlunterlagen und dann wähle ich die einzige Partei, von der ich mich derzeit vertreten fühle in meinen Anliegen. Nicht nur der Landesvater und sein zwar unglaubwürdiger aber allseits beliebter Vize, sondern nach wie vor „Kabarettistinnen“ hetzen gegen die Grünen, „weil die uns den Wohlstand nehmen wollen“ … ja, es jammern stets am lautesten die Wohlhabenden, das war schon immer so und wird sich nie ändern, Armut ist leise. Wirklich arme Menschen haben keine Stimme, die sagen nichts, weil sie sich schämen, gescheitert zu sein inmitten einer Welt der Sieger.

Schmerzhaft nach wie vor sind die Verhaltensweisen der eigenen Artgenossinnen, die das sogenannte „Gendern“ vehement bekämpfen, die aus grell mit Schminke verschmierten gelifteten Gesichtern gegen angebliche Verschandelung der schönen deutschen Sprache und gegen jegliche Verweiblichung anschreien. Sie bestehen darauf, Künstler zu sein, Bürger, Leser, Schriftsteller, Politiker … weiterhin Mitglieder ohne Glied in einem Patriarchat, das sie zwar einstens wüst beschimpft haben, aber das halt doch viel mehr Sicherheit gibt und Frauen vermeintlich Schutz bietet, vorausgesetzt, sie halten sich an die Regeln. Dazu gehört auch, daß über andere Frauen gehässig Gift und Galle gespritzt wird, so z.B. über dicke Frauen, die sich erdreisten, trotz Körperfülle Politik zu machen und tatsächlich sich für wertvolle Ernährung einsetzen.  Es ist bitter, mit welcher Ignoranz man es in den eigenen Reihen zu tun hat. In früheren Zeiten waren Frauen schlichtweg in der Öffentlichkeit nicht vorhanden und Männer verbaten ihnen das Studieren. Da brauchte es keine eigene Sprache. Jetzt sind Frauen vorhanden und wollen eine Sprache … zumindest so unverbesserliche wie ich und noch ein paar. Vor Jahren dachte ich, daß das großartige Buch von Luise Pusch:  „Die Frau ist nicht der Rede wert“ doch bald längst ausgedient hätte … weit gefehlt.

Aber auch da gibt es Hoffnung bei jungen Leuten, die ihren eigenen Kampf um diese Welt führen und für die so vieles, was in meiner Generation die Ewiggestrigen niemals lernen, z.B. eine angemessene Sprache, einfach selbstverständlich ist. Und damit das auch mal gesagt wird: ich bin unbedingt auf der Seite derer, die sich auf die Straße kleben oder sonstwas anstellen, um in einem schier auswegslosen Kampf alte Betonhirne zum Umdenken in eine Zukunft zu zwingen, die für Menschen auf diesem Planeten noch erlebbar ist.

Wir hatten heuer kaum Bienen, keine Wespen, keine Hornissen, keine Hummeln, fast keine Vögel mehr und keine Igel, es gibt kaum Obst, die Bäume sind entweder vertrocknet oder versumpft, die Fichten sterben und es wird weiterhin Monokultur betrieben und es werden mehrmals im Jahr hunderttausende Liter Gülle auf die Wiesen gespritzt, als ich beim letzten Gülletransport bei 32 Grad Hitze aus dem Haus getreten bin, hab ich mich übergeben müssen von diesem Gestank. Und es wird gebaut und gebaut und das Land versiegelt unter Parkplätzen riesiger Industriegebiete und unter Eigenheimen mit Doppelt- und Dreifachgaragen, natürlich mit Fußbodenheizung, damit das Auto nicht friert im Winter.

Trotz alledem trägt der alte Nußbaum hinterm Haus wunderbare Nüsse, die Rosen blühen immer noch, Brombeeren hängen dicht an den Büschen und ich such jetzt wieder in schnurrender und herumtollender Begleitung von eigenen und ständig zulaufenden Miezekatzen meine kleinen roten Äpfel im Gras zusammen und mach nochmal einen Apfelstrudel! Seid alle lieb gegrüßt, die Ihr hier mitlest!

 

Ganz liebe Grüße auch an die liebe Kraulquappe!

 

 

6 Gedanken zu „#19 So schauts aus oder die Wahrhaftigkeit des Wurms

  1. Du beste der Graugänse unter diesem weiten, blauen Himmel, wie gerne ich deinen gedankengängen folge, deinem Mäandern von dem, was stinkt in der Welt und dem, was noch immer schön ist und zu bewahren gilt zu folgen. Ich kann dir nur beipflichten – bei ALLEM, nur, dass hier keine rotwangingen Äpfel im Gras liegen, dafür haben wir mehr Vögel, Bienen und Hornissen, aber kaum Schmetterlinge, was mich traurig macht.
    Herzensgrüße von Nord nach Süd, Ulli

  2. „Der erste Strudel ist immer ganz was besonderes, wurde sehnsüchtig erwartet und macht glücklich. Und ich staune immer wieder, was man aus Mehl, Wasser und im Höchstfall noch mit einem Ei, aber es geht auch ohne, und ein paar Falläpfeln für eine Köstlichkeit zaubern kann!“

    Darauf kommts doch an. Die Dankbarkeit für das, was uns die geschändete natur noch immer schenkt. Jahraus, jahrein. Wir werden in diesem Jahr zum erstenmal im Garten Oliven ernten. Ein Wunder. Für mich jedenfalls.

    Die vielen schmerzhaften Wahrnehmungen, die du beschrieben hast, sind Stufen hinunter in die kulturellen und politischen Abgründe. Die werden von oben nicht verhindert und werden von der Öffentlichkeit billigend in Kauf genommen. Man möchte meinen, die Mehrheit sei zufrieden solange es es Fressen, Saufen und viel schlechte und laute Musik dazu gibt.

    Schöne Grüsse
    Robert

  3. Liebe Graugans,
    als deine Montagmittaggefährtin halte ich mich ja normalerweise mit Kommentaren zurück, doch heut muss ich was anbringen: ich plädiere nämlich für eine Änderung des Blogbeitrag-Titels von „So schaut’s aus“ zu „Von der Wahrhaftigkeit des Wurms“. Das ist der Ausdruck des Tages, ich las ihn und war sofort hin und weg!
    Vielleicht kann dem Antrag ja auf dem kurzen Dienstwege stattgegeben werden?
    Herzlich grüßt dich aus der Landeshauptstadt –
    die Kraulquappe

  4. ja, ich folge deinen gedanken und fühle mit. fast alles sehe ich ebenso, und ich muss sehr aufpassen, dass ich nicht mutlos werde. widerständig und kreativ müssen/ sollten wir bleiben. wir leben noch, mit uns ist zu rechnen, wir lassen uns nicht wegschieben. das frauen nicht unbedingt solidarisch mit frauen sind, erfuhr ich schon immer. ich war die einzige frau im gemeinderat, zweimal. und immer sagten frauen, schade dass du allein bist. wenn frauen frauen wählen würden, antwortete ich dann. lass uns hoffnung suchen, bei den apfelbäumen und anderswo, es gibt sie. (kennst du das lied von biermann: du lass dich nicht verhärten?). herzlichen gruß, roswitha

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