#17 Nomad

Im Grunde meines Herzens bin ich eine Nomadin. Das Kind einer heimatlosen Mutter, einer Schmierenkomödiantin mit Hang zum Vagabundieren  und einem Vater, der zu schwach war für seinen freien Geist und es nicht wagte, aus der schweren bäuerlichen Ärmlichkeit auszubrechen. Beide machten auf ihre Weise Versuche, meine Mutter wurde zur Säuferin und dann war sie tot. Mein Vater versuchte, den aufmüpfigen Rebellen in sich mit schwerer Blut und Boden Moral zu bändigen, aber manchmal gelang das nicht und er redete sich in ketzerische Diskurse hinein, nicht immer zur Freude diverser Besuche. Letztendlich blieb er als stark heimatverbundener Mann in der Enge seines Hofes sitzen. Vor vielen Jahre hat er mir mal anvertraut, daß er nur deshalb nicht verreisen mag, weil er Angst hat, er könnte auf den Geschmack kommen und dann womöglich nicht mehr heimwollen.

Und ich sitze da und schaue in die Dämmerung der blauen Stunde und dann kommt täglich zur gleichen Zeit eine Fledermaus und fliegt um mich herum und ich sehe sie vor dem noch hellen Himmel flattern, später höre ich nur noch ihren Flügelschlag und spüre den leisen Windhauch, wenn sie ganz nah an meinem Kopf vorbei ihre immer gleichen Runden zieht. Wir sagen beide nichts, aber wir spüren einander. Es ist diese Schwellenzeit, in der es sich gut dem Leben nachsinnen läßt.

Bei Bruce Chatwin hat es wohl angefangen, dieses Interesse für nomadisches Leben, aber obwohl ich alle Bücher, bis hin zu den Briefen und „Der Traum des Ruhelosen“, die ich jetzt zum Geburtstag bekam in mich aufsauge, fühlte ich mich lange seinen Worten zwar sehr verbunden, aber nicht direkt wesensverwandt in der nomadischen Lebensweise. Er vertritt in allen seinen Büchern die Meinung, daß im Menschen das Nomadentum als Urtrieb angelegt sei. Ich dachte immer, so seßhaft wie ich lebe, hätte ich diesen Trieb auf keinen Fall.

Ich erforsche zwar seit vielen Jahren das Rotwelsche, die Sprache der Fahrenden und Vagabunden und vor allem diese Verbindungslinien zur Mundart … aber selber fahre ich zwar gerne los, aber ich komme nicht gerne an, ich mag keine Ziele, deshalb mag ich auch keinen Urlaub, ich bin einfach nur gerne unterwegs.  Ich bin so gerne unterwegs. Ohne Ziel. Ohne das Ankommen an einem Ort mit seinen Regeln, an die man sich dann halten muß.

Das ist es, dieses Unterwegssein. Vielleicht ist es eine Mischung aus Nomadin und Vagabundin, eine Strawanzerin und Herumtreiberin … ein Sichtreibenlassen, das spüre ich jetzt mit 71 Jahren immer deutlicher als eine starke lebenslange Wesensart in mir. Das ist immer schon in mir und es heißt nicht unbedingt, daß da immer äußere Bewegung stattfinden muß, Nomadin bin ich auch im Kopf, ich bin eigentlich immer unterwegs … immer.

Gestern habe ich einen Film angesehen, dem ich bisher aus dem Weg gegangen bin, weil ich Oscarfilme meist nicht mag. Bei dem Film „Nomadland“ kommt es ganz dick, er hat nicht nur drei Oscars, sondern unzählige andere Preise gewonnen, und solchen Filmen weiche ich normalerweise aus. Aber dieses Mal hat mich einzig und allein die Sehnsucht getrieben, das Gesicht von Frances McDormand anzuschauen, denn das alleine ist schon jeden Film wert.

In dem 2020 gedrehten Film von Chloe Zhao spielt sie eine 60 jährige Frau, die um ihren verstorbenen Mann trauert. Der Gipssteinbruch irgendwo in Nevada, in dem sie gearbeitet hat, wurde stillgelegt. Ihre Heimatstadt ist entvölkert, alle gingen weg, weil sie nach Schließung dieses Betriebs keine Arbeit mehr fanden und sie geht auch. Sie verläßt ihr Haus und fährt mit ihrem Van, in dem sie auch lebt, durchs Land. Sie bleibt dort, wo sie Arbeit findet und fährt wieder weiter, immer weiter. Und sie trifft auf ihrer Fahrt andere, Nomaden wie sie, die es auch so machen.

Da gibt es eine Welt, eine Art Subkultur neben oder unter dem Sozialbewußtsein des Mainstreams. Menschen, die heraustreten aus dem gängigen kapitalistischen Gesellschaftssystem und sich freiwillig für ein Leben an der Außenseite entscheiden. Der Film versinkt keineswegs in Mitleid oder prangert irgendwelche schlimmen Zustände an, sondern zeigt unerschütterlich realistisch einen Lebensentwurf von mutigen Menschen, die genauso leben wollen, wie sie leben. Viele der Mitwirkenden sind LaiendarstellerInnen und spielen sich selbst.

Ich werde mir diesen Film sicher noch viele Male anschauen, er ist jetzt schon an oberster Stelle meiner Lieblingsfilme angelangt.  Das, was mich bis ins Herz hinein berührt ist das, was ich im Gesicht von Frances McDormand sehen kann, eigentlich bräuchte sie gar keinen Text, ich sehe und spüre, was sie empfindet. Ihr ganzes Leben ist in ihrem Gesicht und da ist auch meins dabei und eigentlich bin ich schon unterwegs mit ihr.

Und da
schwimmt oder grundelt die liebe Kraulquappe

 

6 Gedanken zu „#17 Nomad

  1. Spannend finde ich immer wieder die Verschiebung der Werte, wenn man nomadisches mit sesshaftem Leben vergleicht:

    Freiheit vs. Sicherheit
    Verbundenheit zur Natur vs. Komfort
    Gemeinschaft vs. Individualität
    Tradition vs. Innovation
    aber auch Erfahrungen vs. Besitz

  2. Jetzt, wo ich fast hundert werde hier in dem elenden westdeutschen Kaff, wünsche ich mir manchmal, ich wäre gegangen. Woanders hin. Wenigstens eine Weile. Aber ich wusste nie, wohin, und wofür. Nomade sein. Der Urmensch. Durst haben.

  3. Ich glaube schon auch, das uns das Nomadische noch in den Zellen wohnt, aber wie Herr Graugans schon geschrieben hat, stehen sich da Bequemlichkeit und Mut zur Weite entgegen.

  4. Liebe Graugans, ich lese gerade mit sehr viel Freude den Bericht über’s Nomadisieren, Dein Nick sagt ja schon viel darüber, und mein eigenes Verhältnis zum Nomadisieren würde einen ganzen Beitrag füllen. Nur eine Bemerkung: Ich habe den „Nomadland“ mit einer Freundin gesehen, die mit drei Kindern und einem relativ geringen Familieneinkommen in der Schweiz über die Runden zu kommen versucht. Sie hat heftig über den Film gelästert: Der Entscheid dieser Frau zum Nomadentum sei gar nicht so frei, wie das herüberkomme, das sei alles viel zu sehr romantisiert und würde den ungeheuren Stress, den dieses Leben verursacht, nicht einmal mal annähernd abbilden. Bis zu einem gewissen Grad musste ich ihr recht geben. Ich selbst habe nach dem Film aufgehört, Bücher bei Amazon zu kaufen, ich bevorzuge die lokale Buchhandlung, auch, damit die Buchhändler*innen meines Vertrauens dort nicht zum Nomadentum gezwungen werden.

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